Wenn die virtuelle Welt wichtiger wird als das echte Leben, ist das ein Problem. In Dortmund gibt es dafür eine Anlaufstelle: Deutschlands erstes Wohnheim für Computerspielsüchtige.
Dortmund - Irgendwann ging es einfach nicht mehr. Der Schlafmangel. Die Müdigkeit. Die soziale Isolation. Joe (Name geändert) merkte damals selbst, dass er eine unsichtbare Grenze überschritten hatte. Während seine Klassenkameraden längst im Bett lagen, tobte sich der 16-Jährige mit Computerspielen aus. Auch tagsüber zockte er fünf, sechs, sieben Stunden am Stück. Schule, Freunde, Hobbys – alles egal. Hauptsache, das Internet funktionierte. Seine Eltern, beide berufstätig, merkten lange Zeit nichts. Joe brachte keine dubiosen Freunde mit nach Hause, er kiffte nicht oder torkelte betrunken durch die Gassen seiner Heimatstadt. Nein, er war ruhig, organisiert und pünktlich zu Hause. Genauer gesagt: fast immer zu Hause. Zur Schule ging er nur noch selten. „Wie auch?“, sagt Joe. „Mein Schlafrhythmus war ja total gestört.“
Joe spielte meist „League of Legends“, ein Online-Game mit Millionen von Mitspielern in aller Welt. Doch je mehr Monster er am Bildschirm besiegte, desto stärker wurden seine persönlichen Dämonen: Das Spiel hörte einfach nicht auf. Kaum war ein Gegner besiegt, ging irgendwo auf der Welt der nächste online. „Wenn ich nicht gespielt habe, habe ich mich Scheiße gefühlt“, sagt Joe. „Um mich gut zu fühlen, bin ich wieder an den PC.“
Wenn Joe heute an diese Zeit zurückdenkt, wirkt sie für ihn weit weg. Seit Anfang des Jahres lebt er im „Auxilium Reloaded“ in Dortmund. Die von den Malteser Werken betriebene Therapie-einrichtung ist das erste betreute Wohnheim für Computerspielsüchtige in Deutschland. Die 14 Zimmer, in denen die 14- bis 25-jährigen Patienten wohnen, sind so begehrt, dass es eine Warteliste gibt. Die Anfragen kommen aus ganz Deutschland, von Jugendämtern, Therapeuten, Eltern – und von Betroffenen selbst, die ihr Problem alleine nicht in den Griff bekommen.
Der Vergleich zur Drogensucht liegt nahe
Patrick Portmann leitet das Wohnheim, seit es 2015 offiziell eröffnet wurde. Bevor der 44-jährige Sozialarbeiter hierher kam, kümmerte er sich zehn Jahre lang um junge Drogenkonsumenten, die unter psychischen Erkrankungen litten. Der Vergleich liegt für ihn nahe: „Egal ob man Drogen nimmt oder nur noch vorm PC hängt, irgendwann findet keine Teilhabe am normalen Leben mehr statt“, sagt er, sieht aber auch einen deutlichen Unterschied. „Wer sich in der virtuellen Welt verliert, lebt eher zurückgezogen. Wer Drogen konsumiert, kann sich das nicht leisten – man muss ja schließlich zum Dealer gehen.“
Im Auxilium steht der Stoff im Keller. In einem Übungsraum mit Computern können die Bewohner über ihre Lieblingsspiele sprechen und diese ihren Mitbewohnern auch gleich vorführen. Schließlich sollen sich die jungen Patienten ganz direkt mit ihren Problemen auseinandersetzen. Und das in einer kontrollierten Umgebung. „Wir predigen keine totale Abstinenz“, erklärt Portmann, denn die sei in der digitalen Gesellschaft einfach unrealistisch. „In der Arbeitswelt gehört das Internet nun mal dazu, genau wie ein Smartphone.“ Also kein Totalverzicht, sondern ein gesundes Maß.
Und das klappt – paradoxerweise – zunächst mit der vollen Dröhnung. „Wenn unsere Bewohner hier ankommen, dürfen sie die ersten zwei Wochen von 14.30 bis 22.30 Uhr ihre Handys benutzen“, sagt Portmann. In dieser Zeit schauen sich die Betreuer ihre Neuzugänge genau an: Welche Spiele spielen sie am liebsten? Mit welchen Helden identifizieren sie sich? Gucken Sie stundenlang Youtube-Videos oder suchen sie auch mal den Kontakt zu anderen Leuten?
Nur noch eine Stunde Mediennutzung pro Tag
Dann kommt der radikale Schnitt: nur noch eine Stunde Mediennutzung pro Tag. Statt nächtelang zu zocken, sollen die Jugendlichen ein Gegengewicht zur virtuellen Welt finden: Ausflüge ins Kino. Krafttraining im Keller. Basteln in der Fahrrad-Werkstatt. Zwischendurch gemeinsam kochen. Ein ganz normaler Alltag also, den die Bewohner des „Auxilium Reloaded“ schlichtweg verlernt haben. „Wir sind immer wieder überrascht, wie jemand in der Schule so lange fehlen kann, ohne dass etwas passiert“, sagt Einrichtungsleiter Portmann. Die Betroffenen seien erfinderisch, um die Situation zu verschleiern. Da werden Elternbriefe abgefangen, ausgefallene Schulstunden vorgetäuscht oder kranke Lehrer vorgeschoben. „Die Eltern vertrauen ihren Kindern“, sagt er. „Sie haben ja auch erst mal keinen Grund, an ihnen zu zweifeln.“
Es ist noch längst nicht geklärt, ob es so etwas wie Online-Sucht, Handy-Sucht oder PC-Spiele-Sucht als eigenständige Krankheit überhaupt gibt. Anerkannt sind sie als solche noch nicht; die Weltgesundheitsorganisation WHO ringt um Definitionen. Auf der anderen Seite gibt es ganz offensichtlich Menschen, die Hilfe brauchen. So ist das „Auxilium Reloaded“ auch nicht die einzige Anlaufstelle: An der Uniklinik Bochum gibt es seit einigen Jahren eine „Medienambulanz“, an der Uniklinik Mainz eine „Ambulanz für Spielsucht“. Auch viele Suchtkliniken betreuen Menschen, die mit ihrem Spielekonsum nicht mehr klarkommen. Doch nur im „Auxilium Reloaded“ können Jugendliche bis zu 20 Monate dauerhaft wohnen.
Bad putzen statt zocken
Für Joe war das anfangs alles nicht leicht. „Ich musste mich erst mal in die Pflichten hineinfinden“, sagt er. Bad putzen. Küche putzen. Zimmer aufräumen. Regelmäßig zur Gruppentherapie gehen. Neue Hobbys finden. Er hat viel ausprobiert: Sportvereine, Schach spielen und jetzt die Politik – auf seinem gelben Kapuzenpulli steht „Freiheitskämpfer“, ein Slogan der FDP. An seiner neuen Schule hat er Anschluss gefunden. Nach dem Unterricht geht er regelmäßig zu Freunden nach Hause, wo dann die Versuchung wartet. Denn die meisten seiner neuen Bekannten wissen nichts von seiner Vorgeschichte und zocken, wie in diesem Alter üblich, gerne in der Freizeit. Doch Joe hat gelernt, Nein zu sagen, besonders bei Spielen, die seinem Suchtmuster entsprechen.
Aus Sicht seiner Betreuer befindet sich Joe nach fünf Monaten auf einem guten Weg. In diesem Stadium dürfte er 30 Minuten in der „Black Box“ zocken, einem sonst verschlossenen Medienraum im Dachgeschoss des Wohnheims. Doch Joe zögert. „Ich hab das Gefühl, dass ich noch warten kann. Ich will keinen Rückfall erleben.“ Mit seinen Mitbewohnern zockt er übrigens nach wie vor sehr gerne: „Die Siedler von Catan“ – ein Brettspiel, ganz ohne Bildschirm, Tastatur und Internetzugang.
Wenn Spielen zur Sucht wird
Die Uniklinik Tübingen bietet auf dem Online-Portal „Erste Hilfe Internetsucht“ umfangreiche Informationen. Dort findet man eine Liste von Fragen, die sich exzessive Computerspieler stellen sollten:
Gibt es Bereiche, die von dem, was ich online mache, beeinträchtigt werden?
Machen mir andere Dinge überhaupt noch Spaß?
Wäre mein Leben ohne Internetzugang vollkommen leer?
Habe ich noch Zeit fürFreunde, Familie, Partner?
Tue ich nur noch das Nötigste für Schule, Studium oderBeruf?
Lebe ich einigermaßen gesund (ausreichend Schlaf, regelmäßige Mahlzeiten, vielleicht noch etwas Sport, der nicht nur in der virtuellen Welt stattfindet)?
Wie geht es mir mit dem,was ich online mache? Habe ich häufiger Schuldgefühle, ein schlechtes Gewissen oder ein Gefühl der Leere ohne Onlineaktivitäten?
Kann ich anderen davonoffen erzählen, ohne dass sie bedenklich gucken und mich zu beraten versuchen?