Automat in einer Spielhalle in Stuttgart: Aus einem gelegentlichen Vergnügen wird für manche schnell bitterer Ernst. Foto: dpa

Über 73.000 Menschen im Land gelten als süchtige oder von Sucht bedrohte Spieler. Miriam gehört dazu. Sie erzählt eine Geschichte vom Abrutschen und Aufwachen. Und zweifelt am Erfolg neuer Gesetze. Damit ist sie nicht allein.

Stuttgart - Die Wahrheit kann schmerzhaft sein. „Ich habe mit knapp 30 zum ersten Mal eine Ohrfeige von meiner Mutter bekommen“, sagt Miriam, „und das zu Recht.“ Das war vor einigen Tagen. In dem Moment, vor dem sie sich jahrelang gefürchtet hatte. In dem sie ihrer Familie ihre Spielsucht gestand. In dem sie erzählte, dass sie ihre gesamten Ersparnisse an Automaten verzockt hat. „Den Wert eines Mittelklassewagens“, sagt sie. Dazu alles, was sie verdient hat und nicht dringend zum Leben brauchte. Wie lange das ging, weiß sie nicht mehr genau. „Sechs, sieben, vielleicht acht Jahre“, schätzt die junge Frau aus dem Raum Stuttgart, deren echter Name anders lautet. Zeiträume verschwimmen.

Das Sozialministerium geht davon aus, dass in Baden-Württemberg 73.000 Menschen pathologisch, also krankhaft, spielen oder kurz davor sind. Sie ordnen alles dem Glücksspiel unter. „Wir schätzen, dass etwa 0,5 Prozent der erwachsenen Bevölkerung betroffen sind“, sagt Günther Zeltner. Er leitet die Fachstelle für Prävention und Behandlung von Suchterkrankungen bei der Evangelischen Gesellschaft (Eva) in Stuttgart. Allein in der Landeshauptstadt könnte es 3000 Betroffene geben. So genau weiß das niemand. Die Dunkelziffer ist hoch, viel zu wenige suchen sich professionelle Hilfe. „Die meisten haben ihren Schwerpunkt in den Spielhallen“, weiß Zeltner. Der Großteil der Süchtigen sei männlich, ein auffallend großer Teil habe Migrationshintergrund, der Anteil junger Menschen steige.

Wenn Miriam solche Statistiken hört, huscht ein bitteres Lächeln über ihr Gesicht. „Die sind lächerlich“, sagt sie. Wenn man betrachte, wie viele Spielhallen an jeder Ecke aufmachten, und sehe, wer hineingehe, komme man zu ganz anderen Dimensionen. „Da sitzen 18-jährige Mädels und füttern zwölf Automaten gleichzeitig“, erzählt sie, „acht von zehn sind krankhafte Spieler.“ Und das Klischee, dass vor allem verwahrloste Gestalten dort ihr eintöniges Leben überdeckten, sei ebenso falsch, sagt die hübsche junge Frau. „Nehmen Sie nur mal mich. Ich hatte keine Probleme. Ich habe einen guten Job, viele Freunde, eine tolle Familie.“

Junge Leute gehen unbekümmerter mit Geld um

Die Zahl der Spielhallen im Südwesten hat sich seit 2006 verdoppelt. Sie schießen wie Pilze aus dem Boden. 1517 sind es derzeit. Spielhallen in kleineren Orten unter 10.000 Einwohnern und Automaten in Kneipen sind darin noch nicht einmal enthalten. In Stuttgart ist die Entwicklung noch viel dramatischer. Vor 13 Jahren gab es in der Landeshauptstadt 13 Spielhallen. Heute sind es 131. In manchen Stadtbezirken ist die Lage kritisch. Wo sich immer mehr solche Etablissements ansiedeln, ergreifen normale Ladeninhaber die Flucht. Ganze Straßenzüge geraten in die Abwärtsspirale.

„Die Zahl der pathologischen Spieler steigt nicht eins zu eins im gleichen Maß wie die Zahl der Spielhallen“, weiß Günther Zeltner. Doch sie verleiten besonders junge Leute zum Zocken. „Der Umgang mit Geld ist bei ihnen generell unbekümmerter geworden“, hat der Experte festgestellt. Das spielt den Betreibern in die Hände.

Der Einstieg ist ja auch so einfach. „Ein Freund von mir hat in so einer Bude gearbeitet, den hab’ ich besucht und halt auch mal eine Münze reingesteckt“, erinnert sich Miriam an die Zeit vor sechs, sieben oder acht Jahren. Mit dem ersten Zehner gewann sie 500 Euro. „Dummenglück“, nennt sie das heute. Das war’s. „Man kann sich nicht vorstellen, was das mit einem macht“, sagt die Endzwanzigerin und blickt ins Leere.

„Da sitzen Jugendliche, die haben schon 100.000 Euro Schulden“

Immer häufiger saß sie an Automaten. Ums Gewinnen ging es da schon lange nicht mehr. „Man spielt sechs Stunden lang, geht zwischendurch zweimal zur Bank und denkt nicht einmal darüber nach, was man da tut. Das ist eine hässliche Sache.“ Der Familie werden die aberwitzigsten Lügengeschichten aufgetischt. Ihren Job zieht sie durch, fährt ab und an sogar in Urlaub, schafft es zumindest, nicht völlig abzurutschen. „Schwäbische Disziplin“, sagt sie trocken, „zum Glück.“ Anderen gehe es viel schlechter. „Da sitzen Jugendliche, die haben schon 100.000 Euro Schulden.“

Die Politik will der Entwicklung Einhalt gebieten. Vor einigen Monaten ist der neue Glücksspielstaatsvertrag in Kraft getreten. Auf seiner Grundlage können die einzelnen Länder Gesetze erarbeiten. Ziel: die Spielhallenflut zumindest einzudämmen. Das neue Landesglücksspielgesetz ist vom Kabinett beschlossen und harrt derzeit der zweiten Lesung im Plenum. Der 153 Seiten starke Entwurf enthält weitreichende Auflagen für die Betreiber. In Zukunft müssen Spielhallen etwa einen Mindestabstand von 500 Meter zu weiteren Spielhallen, aber auch zu Kindergärten oder Jugendhäusern einhalten. Sie müssen darüber hinaus ein Sozialkonzept zum Spielerschutz vorweisen und ihre Mitarbeiter entsprechend schulen. „Alle Anbieter müssen sich um Suchtprävention und Spielerschutz kümmern“, sagt Sozialministerin Katrin Altpeter.

Spielhallen, die vor dem 28. Oktober 2011 eröffnet worden sind, genießen Bestandsschutz bis Ende Juni 2017

Erneut lacht Miriam bitter. „In den Buden wird nie einer sagen: Lass es! Die verdienen ihr Geld mit den süchtigen Spielern“, kommentiert sie das neue Gesetz. Wenn man sich irgendwann die Abhängigkeit eingestehe, frage man sich, warum einem keiner Einhalt gebiete. Doch das passiere nie – weder durch das Personal noch durch andere Spieler: „Dort gibt es keine sozialen Kontakte, da drin hat man keine Freunde.“ Am besten sei es, die Läden einfach zu schließen. „Dass das nicht passiert, ist ein Skandal.“

Doch so einfach ist das nicht. Spielhallen, die vor dem 28. Oktober 2011 eröffnet worden sind, genießen Bestandsschutz bis Ende Juni 2017. Alle anderen nur bis Mitte 2013. Doch das bedeutet nicht automatisch, dass damit eine große Zahl der Einrichtungen verschwinden wird. „Das Gesetz birgt viel Brisanz“, weiß Benno Bartosch vom Stuttgarter Ordnungsamt. Das sieht viel Arbeit auf sich zukommen, denn umsetzen müssen die Regelungen die Kommunen. In Stuttgart hat man bereits eine Vergnügungsstättenkonzeption erarbeitet. So sollen neue Spielhallen künftig in lediglich sechs Bezirken und nicht mehr im Erdgeschoss zugelassen sein. Die Konzeption ergänzt aus stadtplanerischer Sicht das Landesgesetz, das auf Suchtprävention abzielt.

„Die Stadt soll all diese Regelungen mit Leben füllen, sie bergen aber erhebliches Konfliktpotenzial“, sagt Bartosch. Denn es gehe letztendlich um massive Eingriffe in die Rechte von Betrieben. „Die Spielhallenbetreiber werden sich mit allen Mitteln wehren“, fürchtet man beim Ordnungsamt und sieht jahrelange Prozesse auf die Stadt zukommen. Es stelle sich etwa die Frage, was passiere, wenn einer kein Sozialkonzept vorweise. Und wo das nötige Personal bei den Kommunen herkomme. „Wir prüfen, ob das Land den zusätzlichen Aufwand bezahlen muss“, sagt Bartosch.

An ihre Scheckkarten kommt Miriam inzwischen nicht mehr heran

Ums Geld ging es auch an dem Tag, an dem Miriams Lügengebäude endgültig in sich zusammenstürzte. 800 Euro verzockte sie da innerhalb weniger Stunden. Geld, das sie zum Stopfen der ärgsten Löcher gebraucht hätte. Ihr Partner, der längst wusste, was los ist, drohte ihr per SMS. Wenn sie nicht sofort nach Hause komme, schrieb er, gehe er zu ihren Eltern. Das tat die junge Frau daraufhin selbst. „Da hat es bei mir auf einmal klick gemacht“, sagt sie. Bis auf die Ohrfeige fiel die Reaktion positiv aus.

An ihre Scheckkarten kommt Miriam inzwischen nicht mehr heran. Im Geldbeutel stecken sieben Euro. „Ich bekomme jetzt wieder Taschengeld wie ein Kind“, erzählt sie, „und fühle mich doch unendlich frei.“ In diesen Tagen geht sie zum ersten Mal zur Therapie zur Eva. Sie freut sich darauf. „Dabei erhofft man sich natürlich auch Antworten auf die Frage: Warum gerade ich?“, sagt sie. Und schränkt ein: „Wahrscheinlich wird es die nie geben.“

Zeltner wäre froh, wenn mehr Menschen diesen Schritt gingen. Doch es fehlt an Kapazität für Hilfesuchende im Land. „Mit dem neuen Gesetz sind wir auf einem guten Weg“, sagt der Eva-Experte. Doch es fehle eine grundlegende Aussage: die, dass man auch das Hilfesystem stärken wolle. „Das hat das Land nur mündlich erklärt, aber man muss auch diese Verantwortung übernehmen“, fordert er. Das bedeutet mehr Geld, mehr Therapieangebote.

„Wenn meine Geschichte auch nur einen Menschen schützt oder wachrüttelt, hat es sich gelohnt, sie zu erzählen“, sagt Miriam. Dass neue Gesetze die Spielhallenflut wirklich eindämmen und süchtigen Spielern helfen werden, darauf setzt sie nicht. Sie will sich jetzt selbst aus dem Sumpf ziehen und bei einer Therapie aufarbeiten, was mit ihr passiert ist. In den vergangenen sechs, sieben oder acht Jahren.