Das ist die Donzdorfer SPD: Wilfried Strauß, Gisela Pock, Eddi Gromer, Ruth Kellner, Hermann Masuhr Foto: Ziedler

Hat der Martin-Schulz-Effekt schon die schwäbische Provinz erreicht? Besuch bei den SPD-Genossen in Donzdorf vor dem Landesparteitag in ihrer Nachbarschaft.

Donzdorf - Vom Lautertal, das von den ersten Frühlingssonnenstrahlen in ein Farbenmeer verwandelt wird, geht das kleine Simonsbachtal ab. In der Donzdorfer Ortsmitte mit Martinuskirche und Schloss, von wo aus Pfarrer und Grafen jahrhundertelang den Flecken regiert haben, weist ein Schild in Richtung Stausee. Ziel ist der Wanderparkplatz. Der Bach plätschert, am Wegesrand ein Gehege mit Rehen, die frisch ergrünten Hänge der Schwäbischen Alb locken. Von hier führen alle weiteren Wege nach oben. Kein schlechter Ort also, um sich mit einer wiederbelebten alten Tante namens SPD zu treffen, die sich urplötzlich wieder zu Höherem berufen fühlt.

Fünf Genossen haben sich in der „Waldschenke“ neben dem Parkplatz versammelt, um darüber zu reden, dass ihnen jemand, scheinbar aus dem Nichts, den Ausgang aus dem Jammertal gewiesen hat. Das Thema bei Bier, Kaffee und Apfelstrudel ist das Phänomen Martin Schulz, das dem kleinen Häufchen schwäbischer Sozialdemokraten den Glauben zurückgegeben hat. Mehr sind sie nicht: Von den offiziell 22 Mitgliedern in der 11 000-Einwohner-Stadt im Kreis Göppingen ist nur diese Handvoll noch aktiv. „Die Donzdorfer SPD“, sagt der pensionierte Lehrer und stellvertretende Ortsvorsitzende Wilfried Strauß, „sitzt hier am Tisch.“

Donzdorf ist durch und durch schwarz

Leicht hatte sie es noch nie. Donzdorf ist durch und durch schwarz. Hermann Masuhr, einer der Gemeinderäte am Tisch, formuliert das so: „Do kendsch ra Kuh a CDU-Schild omhänga, ond die däd gwählt werda.“ Seit jeher also stellt die Union im Gemeinderat die absolute Mehrheit – aktuell mit zwölf von 23 Räten. Acht gehören den Freien Wählern an, ganze drei den Roten. Die Sozialdemokraten waren schon mal doppelt so stark, auch das ist Teil des Trauerspiels, dass es von niedrigem Niveau noch einmal steil bergab gegangen ist.

Die Geschichten vom Fremdeln mit der ältesten Partei Deutschlands sind allgegenwärtig in der Runde. Sicher, der Ort ist traditionell von Landwirtschaft und Handwerk geprägt, aber auch der Weltmarktführer am Ortsausgang hat nicht zur Herrschaft der Arbeiterklasse geführt und zu der der SPD schon gar nicht. Nicht einmal vollständige Listen kann sie zu Gemeinderatswahlen präsentieren. Stattdessen freundliche Distanz, ein bisschen Mitleid und manchmal Häme für die meist zugezogenen Sozialdemokraten, wie die frühere Gemeinderätin Gisela Pock erzählt: „Ich wusste gar nicht, dass ich hier als ,a Rauda’ gelte, bevor es mir in der Reinigung gesagt wurde.“ Ihre Nachfolgerin Ruth Kellner, Hochdeutschsprecherin, klagt: „Auch nach 40 Jahren in Donzdorf bin ich noch eine Reigschmeckte.“ Ihr Parteibuch ist da eher ein Integrationshindernis. Und als Wilfried Strauß und ein weiterer Lehrer aus Donzdorf 1976 ihre Namen unter einen sozialdemokratischen Wahlaufruf in der Lokalzeitung setzten, verbreitete sich die Nachricht am Ort „wie ein Lauffeuer“. Das Rechberg-Gymnasium hatte erst mal seinen Ruf weg, manche Eltern sollen überlegt haben, ob sie ihre Kinder wirklich auf die „rote Schule“ schicken könnten.

Aber das sind alte Geschichten, es kamen auch bessere Zeiten, wie Strauß betont. So wie das ganze Land sei Donzdorf offener geworden, auch für die SPD: Erst fiel ein wenig Glanz auf den Ortsverein, da der frühere Bundestagsabgeordnete Heinz Rapp, eng mit dem einstigen Bundesvorsitzenden Hans-Jochen Vogel verdrahtet, in Donzdorf wohnte. Und sogar noch in der Stuttgarter Regierungskoalition unter grüner Führung hat es eine gut besuchte Veranstaltung zur Bildungsreform mit dem Landtagsabgeordneten Sascha Binder gegeben. Umso größer ist der Schock im vergangenen Jahr gewesen: 12,7 Prozent für die SPD bei den Landtagswahlen, in Donzdorf selbst waren es 12,5 Prozent – Platz vier hinter CDU, Grünen und AfD.

Die Leidenschaft ist neu erwacht

Wirklich erholt haben sich die Genossen davon nicht. „Ein bisschen Masochismus gehört schon dazu, um in Donzdorf die SPD zu vertreten“, meint der Ortsvorsitzende Eddie Gromer. Das Parteileben als rege zu bezeichnen, wäre ein Euphemismus: Das Kaffeekränzchen in der „Waldschenke“ ist die erste Ortsvereinssitzung in diesem Jahr, eigens für den Gast organisiert. Der letzte Eintrag auf der Internetseite stammt von 2015. Strauß redet, nur halb im Scherz, vom sozialdemokratischen „Altersheim“. Und trotzdem leuchten die Augen, ist die Leidenschaft neu erwacht. Wirklich fassen können sie es noch immer nicht, dass es nach dem jähen Absturz in den Umfragen nun steil nach oben geht mit dem, wie es Gisela Pock bezeichnet, „Geschenk Martin Schulz“. „Hoppla, was passiert da gerade?“, fragt Strauß. Gromer fühlt sich an „Willy-Brandt-Zeiten“ erinnert.

Das sehen selbst die Donzdorfer Platzhirsche so. Otto Maier, Jahrgang 1933, ist gerade für 60 Jahre CDU-Mitgliedschaft geehrt worden, hat vier Jahrzehnte für die Union im Gemeinderat gesessen und ist schließlich zum Ehrenbürger gekürt worden. „Als echte Konkurrenz haben wir die SPD in Donzdorf nie wahrgenommen“, erzählt er in seinem Haus mit Blick über Donzdorf. Nun sieht er die Außenseiter im Aufwind: „Schulz wird in Donzdorf zu einem gewissen Grad das bewirken, was er auch im Bund bewirkt – ich höre in meinem Umfeld viele lobende Worte für ihn.“ Früher, ja, da habe die Bindung zur katholischen Kirche eine große Rolle gespielt: „Umso mehr hat es mich gewundert, dass die SPD in Donzdorf nie stärker Fuß gefasst hat, obwohl der Einfluss der Religion auf die politische Wahlentscheidung seit vielen Jahren immer mehr abnimmt.“

Die Agenda 2010 beschäftigt auch die Donzdorfer Genossen

Die Erklärungsversuche der Genossen selbst schlagen schnell in Begeisterung um. Besonders gut kommt an, dass sich Schulz als ehemaliger Bürgermeister von Würselen und Präsident des EU-Parlaments in der Kommunal- wie in der Europapolitik auskennt. „Er weiß, wovon er spricht – das spüren die Leute“, meint Eddie Gromer, den auch Schulz’ Biografie mit der überwundenen Trinksucht und der Karriere ohne Abitur beeindruckt: „Da steht einfach ein Mensch auf der Bühne mit all seinen Stärken und Schwächen.“

Für die politische Analyse in der „Waldschenke“ sind Wilfried Strauß und Hermann Masuhr zuständig. „Es gibt jetzt eine echte Alternative zu Merkel“, sagt Strauß, der sie vielleicht selbst gewählt hätte, wäre Schulz nicht auf der Bildfläche erschienen. Europa ist ihm, der eine Britin zur Frau hat, besonders wichtig. Schulz’ Brüsseler Vergangenheit wird nicht als Eurokratentum ausgelegt, sondern als Expertise, wie Masuhr, der einzige „Arbeiter“ in der Runde, aus seiner Fabrik in Eschenbach zu berichten weiß: „Mit ,Ausländer raus’ gefährden wir alles, was wir haben – wir leben von den Ausländern, verkaufen ihnen unsere Produkte.“ Seine Kollegen hätten noch vor Kurzem für die AfD geschwärmt, „nun kommt der Schulz bei ihnen richtig gut an“. Auch wegen der vorgeschlagenen Änderungen an der Agenda 2010.

Das SPD-Schmerzensthema schlechthin beschäftigt auch die Donzdorfer Genossen. „Das hat unsere Partei fast umgebracht“, sagt Masuhr, der Schulz’ Kanzlerkandidatur als Rettung in letzter Minute empfindet. Für den Ortsvorsitzenden Gromer ist es Schulz’ „größter Vorteil, dass er nicht Teil der verfluchten großen Koalition war“. Wie in der Bundespartei auch gehen die Meinungen in diesem Punkt auseinander. Gisela Pock etwa will die SPD-Erfolge weder bei der Einführung eines neuen Schulsystems im Land und eben auch nicht bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit im Bund kleinreden: „Sie hat einiges bewirkt.“

Zwei neue Genossen sind seit Januar zu verzeichnen

Man einigt sich darauf, dass die Agenda damals, als Deutschland als kranker Mann Europas bezeichnet wurde, richtig war, sich die wirtschaftliche Lage aber geändert habe und Auswüchse korrigiert werden müssten – dass bei einem Automobilzulieferer im Nachbarort zuletzt 70 Prozent der Beschäftigten Leih- und Zeitarbeiter waren, dürfe schließlich einfach nicht sein.

Jetzt soll alles besser werden – mit neuer Motivation und neuen Mitgliedern. Ja, fürwahr, der Schulz-Effekt schlägt sich schon in der Donzdorfer Statistik nieder. Zwei neue Genossen sind seit Ende Januar zu verzeichnen, „ein Zuzug, ein Eintritt“, wie Gromer stolz verkündet, „zehn Prozent Mitgliederzuwachs“, fügt er schmunzelnd hinzu. Es gehört zur Geschichte dieser so gründlich von sich selbst überraschten Partei, dass er noch gar nicht weiß, wer der online eingetretene Neue ist.

Den neuen Genossen, der gerade aus dem Landkreis Nordwestmecklenburg der Arbeit wegen nach Donzdorf gezogen ist, hat Eddie Gromer dagegen gleich besucht. Das Erste, was er zu hören bekam, war des Neubürgers Ansage, kein GP-Nummernschild des Kreis Göppingen haben, sondern sein altes mit „NWM“ behalten zu wollen: „Das steht für ,Nie wieder Merkel’.“

Gisela Pock will Schulz unbedingt sehen

Den Mann, der sie ablösen soll, wollen die Donzdorfer SPDler nun selbst erleben. Sie stellen wegen ihrer eigenen Erfolglosigkeit keinen Delegierten beim Landesparteitag am Wochenende, der gleich um die Ecke, nur 17 Kilometer entfernt, in Schwäbisch Gmünd stattfindet. Aber Gisela Pock will Schulz unbedingt sehen – als Mann findet sie Schulz nicht so attraktiv wie damals Björn Engholm, politisch umso mehr. Sie fragt Gromer, ob Parteitage auch normalen Parteimitgliedern offenstehen, der das bejaht. Die schwäbische Schulz-Show findet also mit Donzdorfer Beteiligung statt.

Abschließender Fototermin vor der „Waldschenke“ mit den Hügeln der Alb im Hintergrund. Die eben noch geäußerten Restzweifel, weil bis zur Wahl „noch viel Wasser die Lauter hinunterfließt“, scheinen verflogen. Die fünf Donzdorfer Genossen blicken nicht nach unten in ihr sozialdemokratisches Jammertal, sondern nach oben in die Ferne. Wie eine Wandergruppe, die noch hoch hinaus will.