Foto: Kraufmann/Kienzle

SPD-Chef Sigmar Gabriel buhlt auf sanfte Art um Nichtwähler und warnt vor zu starken Grünen.

Stuttgart - Er ist schlagfertig und kann sehr bissig sein. Aber im Moment versucht es Sigmar Gabriel auf die sanfte Tour. Gleichwohl bekamen beim Treffpunkt Foyer unserer Zeitung am Montagabend alle politischen Konkurrenten des SPD-Vorsitzenden ihr Fett weg.

Das geht ja gut los. "Schon falsch!", zischt Gabriel, als Wolfgang Molitor anfangs seinen politischen Lebenslauf skizzierte. Nicht erst mit 18, sondern bereits mit 17 Jahren sei er der SPD beigetreten. Und als der kommissarische Chefredakteur der Stuttgarter Nachrichten dann auch noch die eine oder andere Niederlage erwähnt, die Gabriel in seinem politischen Leben erlitten hat, da knurrt dieser: "Vielen Dank, dass Sie mich daran erinnert haben."

Sigmar Gabriel (51) steht noch immer im Ruf, ein politischer Raufbold zu sein. Einer, der vor allem eine große Klappe hat. Aber jetzt ist er SPD-Chef, Vorsitzender der ältesten parlamentarischen Partei Deutschlands. Da muss man auch ein bisschen staatstragend sein.

Gabriel macht sich viele Sorgen an diesem Abend in der L-Bank. Sorgen um das Gemeinwohl, Sorgen darum, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Auch um die vielen Nichtwähler macht er sich Sorgen - natürlich nicht ganz ohne Hintergedanken. Die Nichtwähler sind es, die er für die SPD zurückgewinnen will. 1,7 Millionen, so sagen ihm Demoskopen, habe die SPD schon zurückgewonnen - aber noch nicht dauerhaft. Andere Demoskopen sehen noch keinen wirklichen Fortschritt unter Gabriel. Politik ist halt Ansichtssache.

Wer erwartet hat, dass sich Gabriel an diesem Abend die beängstigend starken Grünen vorknöpft, der sieht sich getäuscht. Ihm sei es lieber, wenn diese "linksliberale Partei" punkte als diese "rechtsliberale Partei" namens FDP, bei der er nicht einmal Grundwerte erkennen kann. Aber so sanft ist Gabriel nun doch nicht geworden, dass er die Grünen verschonen würde. Mit ein paar wohlgesetzten Worten skizziert er die Grünen als Beamtenpartei, als Partei der Sorgenfreien, die glaube, das Geld müsse nicht mehr erwirtschaftet werden. "Deutschland kann man nicht nur mit Latte macchiato und Bionade regieren."

Die SPD hingegen - die Partei der kleinen Leute. Und der große Kümmerer ist natürlich Gabriel. Er will, dass alte Menschen eine auskömmliche Rente haben und arme Mütter vom Hartz-IV-Satz ihren Töchtern auch mal ein zweites Paar Schuhe im Jahr kaufen können.

Gabriel macht sich Sorgen - auch um die Parteien. Die SPD habe mal eine Million Mitglieder gehabt, jetzt sei es nur noch die Hälfte, sagt er mit ernster Miene. Und die, die noch dabei sind, seien meist im Rentenalter.

Die großen Parteien bekämen daher gar nicht mehr mit, was das Volk in all seinen Schichten bewege, sagt Gabriel. "Die Parteien werden dümmer", sagt er sogar. Abhilfe könne nur eine "drastische Öffnung" schaffen: Vorwahlen wie in Amerika, projektbezogene Mitarbeit.

Rückt die SPD unter Gabriel nach links? Man merkt es kaum, aber natürlich tut sie es doch. Fast nebenbei räumt Gabriel mit der Agenda 2010 des letzten sozialdemokratischen Kanzlers, Gerhard Schröder, auf. Die Schaffung eines Niedriglohnsektors - großer Fehler. Der Glaube, man müsse die Deutschland AG abschaffen und ausländisches Kapital ins Land holen - auch ein großer Fehler. Gabriel glaubt nicht mehr richtig an den Markt, seit dieser angeblich die Finankrise verursacht hat. Er spricht von "Riesenirrtümern" auch seiner SPD. Nötig seien nun wieder klare Spielregeln, meint er.

Ganz ruhig sitzt er da. Er gestikuliert kaum und vertraut auf die Macht seiner Worte. Reden kann er - natürlich auch über Stuttgart 21. Gabriel sieht in den Protesten gegen das Bahnprojekt eine "generelle Misstrauenserklärung" gegenüber der Politik. Er erlebe dies auch anderswo bei anderer Gelegenheit. Vielleicht, so vermutet er, hätten die Menschen in den letzten beiden Jahrzehnten so viele Veränderungen erlebt, dass sie nun wenigstens ihren alten Bahnhof oder ihre Plattenbausiedlung behalten wollten.

Wie auch immer: Einen Ausweg aus dem Dilemma mit Stuttgart 21 bietet seiner Ansicht nach nur eine Volksbefragung. Es gebe nach der Schlichtung eigentlich nur drei Möglichkeiten, meint Gabriel: das Projekt durchziehen, abbrechen oder eben abstimmen. Gabriel ist fürs Abstimmen, auch wenn dies Verfassungsrechtler für höchst problematisch halten. Gabriel ist sowieso für mehr Volksentscheide. Dann müsse sich die Politik besser erklären und könne auch Blockaden lösen, wie es sie in der Bildungspolitik seit Jahrzehnten gebe.

Knapp ein Jahr ist Gabriel nun im Amt - der sechste SPD-Vorsitzende in sechs Jahren. Das sei auch das Tempo, in dem der VfB Stuttgart zuletzt seine Trainer verschlissen habe, sagt Wolfgang Molitor anfangs. Doch Gabriel redete seine SPD nicht mehr schlecht. Es sei doch schon etwas, dass man der SPD jetzt wieder zutraue, nach der nächsten Bundestagswahl 2013 wieder den Kanzler zu stellen, meint er. Man ist bescheiden geworden, und natürlich findet Gabriel sich so schlecht nicht.

Ganz anders fällt selbstredend sein Fazit aus, was das erste Jahr der schwarz-gelben Bundesregierung angehe. In Berlin regiere gerade der "blanke Lobbyismus", schimpft er. Da würden Geschenke an die Wirtschaft verteilt, und derjenige bekomme am meisten, der am stärksten sei. Das Wort "Gemeinwohl", so Gabriel, komme im Koalitionsvertrag von Merkel und Westerwelle nicht vor. Ein Konjunkturprogramm für Politikverdrossenheit sei das, sagt Gabriel und legt seine Stirn in Falten. Den großen Kümmerer hat er wirklich gut drauf.

Ach ja, einstecken muss Gabriel an diesem Abend auch. Auf der großen Leinwand hinter ihm kommen Stuttgarter zu Wort, die an einem regnerischen Tag zu Gabriel befragt wurden. Viel Positives bekommt er dabei nicht zu hören. Die Vorurteile über Gabriel sitzen zumindest hierzulande offenbar tief. Einer der Befragten schimpft in breitem Schwäbisch über die Unfähigkeit der SPD. Gabriel sagt: "Ich habe ihn Gott sei Dank nicht verstanden."