Die Bergs in Stuttgart: Anton Berg, Natalja Isaak, Harry Berg, Valentina Berg, Jan Berg und Timo Berg (von links) Foto: factum/Granville

Vor fast 25 Jahren ist die russlanddeutsche Familie Berg aus Kasachstan eingewandert. Heute lebt sie in Stuttgart-Zuffenhausen und hat dort Wurzeln geschlagen.

Stuttgart - Ihr neues Leben beginnt für Valentina und Harry Berg am 30. Januar 1991. Ein Mittwoch war es. Da kamen sie auf dem Frankfurter Flughafen an. Aus ihrem alten Leben hatten die beiden nur zwei Koffer und einen Nachttopf für ihren einjährigen Sohn Anton mitgenommen. Valentina Berg war gerade 22, ihr Mann 26 Jahre alt. Das ganze Leben vor sich, sahen sie in ihrer alten Heimat keine Zukunft mehr. Weder im ukrainischen Kiew, wo beide studiert hatten, und noch weniger im kleinen kasachischen Dorf Nowodolinka, wo Harry Berg aufgewachsen ist. „Wir konnten keine Wohnung und auch keine Arbeit finden“, sagt Harry Berg, der damals sein Ingenieurstudium abbrach und als Arbeiter in der Kiewer Metro anheuerte, um seine kleine Familie über die Runden zu bringen.

Ähnlich ging es Hunderttausenden anderen Familien von Russlanddeutschen. Das Leben in der dahinsiechenden Sowjetunion war Ende der 1980er Jahre nicht einfach. Spätestens seit Gorbatschows Perestroika verließen dann immer mehr Russlanddeutsche das zerfallende kommunistische Riesenreich und brachen in Richtung Deutschland auf. Dorthin, woher ihre Vorfahren einst im 18. und 19. Jahrhundert nach Russland ausgewandert sind, um im Wolgagebiet oder am Schwarzen Meer nach Wohlstand und Glück zu suchen.

Seit 1985 sind über zwei Millionen Russlanddeutsche zurück in die Bundesrepublik gekommen. Hier bekamen sie dann den deutschen Pass und die Bürgerrechte zugesprochen. Allein Baden-Württemberg hat nach Angaben des Karlsruher Regierungspräsidiums seit 1994 über 150 000 Zuwanderer mit deutschen Wurzeln aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion aufgenommen. Im vergangenen Jahr kamen lediglich nur noch 714 Russlanddeutsche in den Südwesten, wobei das ein leichter Anstieg gegenüber 2013 (333 Zuwanderer) ist. „Das liegt daran, dass nach einer Änderung des Bundesvertriebenengesetzes jetzt eine Familienzusammenführung leichter möglich ist. Für 2015 rechnen wir wieder mit einer vierstelligen Zahl an Zuwanderern“, sagt Joachim Fischer vom Karlsruher Regierungspräsidium. Die Spitze dieser Zuwanderung fällt aber eindeutig auf Anfang bis Mitte der 1990er Jahre, als Jahr für Jahr teilweise über 200 000 nach Deutschland kamen, um hier eine neue Heimat zu suchen.

"Das Schlimmste war, dass die Zuwanderer nicht als Deutsche, sondern als Russen wahrgenommen wurden", Ludmilla Holzwarth, ehrenamtliche Helferin

„Damals sind auch viele aus meiner Verwandtschaft nach Deutschland. Und irgendwann fragte mich meine Mutter, ob wir auch gehen sollen. Ich war einverstanden, weil wir in unserem Dorf kaum verwurzelt waren. Wir sind ja quasi ein heimatloses Volk“, sagt Harry Berg und erzählt davon, dass viele Russlanddeutsche nach dem Zweiten Weltkrieg in Stalins Sowjetunion als Nazis stigmatisiert und diskriminiert wurden. Die meisten wurden aus ihren Heimatstädten oder Dörfern nach Sibirien oder Kasachstan verbannt. So ging es auch seinen Eltern, die ursprünglich aus der Südukraine und dem Wolgagebiet stammen. „Nein, man kann nicht sagen, dass es mir sehr schwerfiel auszuwandern“, so der heute 52-Jährige.

Ganz anders war es bei seiner jungen Frau Valentina, die in der Nähe von Kiew geboren ist. „Ich hatte mir nie vorstellen können, dass ich die Ukraine mal verlassen werde“, sagt sie. „Ich musste meine Eltern und Freunde zurücklassen. Aber es war doch klar, dass ich mit meinem Mann mitkomme.“

Nach zwei Jahren Warten kamen die Ausreisepapiere. Für Harry und Valentina Berg und ihren kleinen Sohn Anton war es ein Aufbruch vom kasachischen Nowodolinka in eine unbekannte Welt. Über Deutschland haben sie vorher nicht viel gewusst.

Angekommen in ihrem neuen Zuhause, wurden die Bergs in einer Unterkunft für Spätaussiedler in Sachsenheim untergebracht. Die erste Zeit sei nicht einfach gewesen, sagt das Ehepaar heute, aber sie erinnern sich gerne an diesen Anfang in Deutschland. „Wir wollten uns so schnell wie möglich integrieren, auf eigenen Beinen stehen, Arbeit finden“, erzählt Harry Berg. Eine große Hürde war die fremde Sprache, vor allem für Valentina, die kein einziges Wort Deutsch konnte. „Der wichtigste deutsche Satz für mich war damals ‚Entschuldigung, ich verstehe nichts‘“. Harry Berg hatte als Kind mit seiner Oma Deutsch gesprochen, aber auch seine Kenntnisse reichten nicht aus, um in Deutschland eine Arbeit zu finden. Beide besuchten einen Sprachkurs, aber es sollte noch ein paar Jahre dauern, bis sie ohne Angst mit Deutschen sprechen sollten.

An eine Rückkehr in die Ukraine oder nach Kasachstan haben die Bergs nie gedacht. „Wir wollten es hier schaffen“, sagt Harry Berg. „Aber wir kennen Familien von Russlanddeutschen, die zurückgegangen sind.“

An Deutschland schätzen die Bergs  vor allem die Stabilität und wirtschaftliche Sicherheit

Tatsächlich fiel es gerade den Zuwanderern, die mit der ersten Welle nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs gekommen waren, oft schwer, sich in der historischen Heimat ihrer Großeltern einzuleben. „Viele konnten keine Wohnung finden, weil anfangs ungern an Ausländer vermietet wurde. Auch mit der Arbeitssuche hatten viele große Probleme“, sagt Ludmilla Holzwarth. Sie war 18 Jahre lang ehrenamtliche Vorsitzende der Ortsgruppe der Deutschen aus Russland in Stuttgart und hat Zuwanderern in der schweren ersten Zeit der Eingewöhnung geholfen. „Das Schlimmste war aber, dass die Zuwanderer von den Leuten hier nicht als Deutsche, sondern als Russen wahrgenommen wurden. Das hat viele, die in der Sowjetunion vieles erleiden mussten, sehr enttäuscht, weil sie sich doch hier integrieren wollten.“ Vor allem junge Spätaussiedler fühlten sich auch in Deutschland heimatlos und unerwünscht. Viele blieben unter sich. So mancher rutschte in die Drogenszene oder die Kriminalität ab.

Valentina und Harry Berg hatten Glück. Sie fanden schnell Anschluss. Gerne denken die beiden Zuwanderer an die vielen gastfreundlichen und netten Menschen zurück, die ihnen bei ihrer Ankunft geholfen haben. „Es gab Nachbarn, die haben uns Spielsachen, Süßigkeiten oder Kleider für unseren Sohn gebracht“, erzählt Valentina Berg.

Aber es gab auch Missverständnisse im Alltag. „Ich kann mich erinnern, dass ich mal mein altes Fahrrad im Müll entsorgen wollte. Das hat der Nachbar gesehen. Diesen Blick werde ich nicht vergessen“, sagt Harry Berg. „Erst später hab’ ich von der Mülltrennung gehört. In der Sowjetunion gab es so etwas nicht. Und solche Regeln hat uns beim Sprachkurs keiner beigebracht.“

Nach drei Jahren in Deutschland haben die Bergs in Stuttgart ihre erste eigene Wohnung bezogen. Nach vielen Bewerbungen fand Harry Berg eine Arbeit bei den Technischen Werken Stuttgart (jetzt EnBW), wo er bis heute arbeitet. Seine Frau, die in Kiew Modedesign studiert hatte, bekam zunächst eine Anstellung in einem Schuhgeschäft. „Beim Arbeitsamt wurde mir gesagt, dass ich als Zuwanderin wenig Chancen hätte, in meinem Beruf zu arbeiten. Das wollte ich nicht akzeptieren.“ Heute arbeitet Valentina als freiberufliche Modedesignerin und organisiert Modeschauen.

Mittlerweile ist Deutschland für die Bergs nicht nur zu einem neuen Zuhause, sondern auch zu einer neuen Heimat geworden. „Wenn ich heute zu Besuch in die Ukraine fahre, fühle ich mich dort fast schon fremd. Ich verstehe das Denken der Menschen dort nicht, und sie verstehen mich nicht. Ich bin dann immer froh, wenn ich wieder zurück in Stuttgart bin“, sagt Valentina Berg. „Wir fühlen uns heute also schon gut integriert in die deutsche Gesellschaft“, ergänzt ihr Mann.

Bereits in Deutschland sind zwei der drei Söhne der Bergs zur Welt gekommen. Der 18-jährige Timo macht gerade sein Abitur auf dem Stuttgarter Porsche-Gymnasium. Der 20-jährige Jan studiert Softwaretechnik an der Uni Stuttgart. Die beiden Jugendlichen fühlen sich uneingeschränkt als Deutsche. „Ich habe keinen großen Bezug zur Heimat meiner Eltern. Ich bin hier heimisch“, sagt Jan. „Meine Zukunft sehe auch ich auf jeden Fall in Deutschland“, sagt sein Bruder Timo. Genauso denkt der älteste Sohn der Bergs, Anton, der bei der Auswanderung der Familie 1991 ein Jahr alt war und heute als Ingenieur bei Siemens arbeitet und nicht mehr in der elterlichen Wohnung in Zuffenhausen wohnt.

Dennoch ist Valentina und Harry Berg wichtig, dass ihren Kindern die russische Kultur nicht ganz fremd ist. Zu Hause wird deshalb Russisch gesprochen. Häufig gehen die Bergs mit ihren Kindern in den Deutsch-russischen Kunst- und Kulturverein Kolobok, um dort mit anderen Zuwanderern, aber auch deutschen Freunden russische Feste wie Neujahr oder Ostern zu feiern. Der Verein wurde im Jahr 2000 von den Bergs mitbegründet und hat heute über 2000 Mitglieder. „Das Gute und Schöne aus unserer Vergangenheit möchten wir auch hier in Deutschland weiterführen“, sagt Valentina Berg.

Etwas mehr als ein halbes Jahr ist es noch, dann leben die Bergs seit 25 Jahren in Deutschland. Auch wenn es am Anfang schwer war und sie viele Hürden meistern mussten, ihre Auswanderung haben Valentina und Harry Berg nie bereut. An Deutschland schätzen sie vor allem die Stabilität und wirtschaftliche Sicherheit. „Unsere Kinder hätten in der Ukraine oder in Kasachstan nie die Chancen gehabt, welche sie hier haben“, sagt Valentina. „Und ich wollte immer, dass sie die deutsche Sprache sprechen. Das wäre in unserer alten Heimat unmöglich“, ergänzt Harry Berg.