Bei der Occupy-Wall-Street-Demonstration am 15. Oktober in Paris trägt einer der Teilnehmer eine Guy-Fawkes-Maske, die zum Symbol der Bewegung geworden ist. Fawkes, ein englischer Offizier, war 1606 hingerichtet worden, wegen eines versuchten Attentats auf das britische Parlament mitsamt dem König. Foto: dpa

Ein Soziologe über Stuttgarts Versuchsbürgertum und die Sehnsucht nach dem Körper im Protest.  

Protest liegt in der Luft. Doch ist die Occupy-Bewegung tatsächlich mehr als ein Randgruppenphänomen? Einschätzungen des Sozialforschers Heinz Bude.

Herr Bude, Lichterketten waren gestern, heute wird mit Guerilla-Gardening protestiert. Ist das Bepflanzen von öffentlichen Flächen eine effektive Form der Auflehnung?
Ich glaube schon. Der Protest ist heute kompetenter und vielfältiger geworden. Es gibt nach wie vor aggressive Formen, seine Stimme öffentlich zu erheben, etwa das Errichten von Barrikaden. Das Guerilla-Gardening ist eine neue Form des Sich-Meldens: Man nutzt das städtische Umfeld für eigene Zwecke. Beim Gärtnern im öffentlichen Raum will man das eigene Verständnis von Bürgerlichkeit belegen.

Was hat das Bürgertum mit Guerilla-Gardening zu tun?
Im bürgerlichen Verhalten gibt es immer eine Spannungslogik: Das eigene Tun dient der Selbstverwirklichung, gleichzeitig will man was für die Allgemeinheit tun. Das Bepflanzen von Grünstreifen vereint beides.

Im Protest wird das Individuum zum Teil eines Ganzen. Zeigt sich so die Sehnsucht nach einem warmen Bad in der Menge?
Sicher. Es gibt einen ungeheuren Bedarf an Gemeinschaft in unserer Gesellschaft. Damit tun sich die politischen Parteien schwer.

Sind Parteien die Verlierer dieser neuen Protestkultur?
Die Parteien müssen sich darauf einstellen, dass sich die Bürger von den Volksparteien emanzipieren. Das heißt nicht, dass die Zeit der Volksparteien vorbei ist. Aber sie werden in ihrer Größe nicht mehr so bedeutend sein, wie es etwa die SPD für Nordrhein-Westfalen einmal war.

Trotzdem werden die Menschen ihre Belange auch künftig nicht direkt auf der Straße aushandeln.
Nein. Dafür ist Baden-Württemberg ein wunderbares Beispiel. Die Gegner von Stuttgart 21 waren auf der Straße, aber sie wollten auch das diskursive Forum. Es war ja der Clou von Heiner Geißler, dieses Forum durch die Anhörung zu bieten. Das kollektive Versuchsbürgertum hat in Baden-Württemberg versucht, etwas zu bewirken. Aber das ist jetzt mit dem Ausgang des Referendums zum Stillstand gekommen.

Wirklich? In der Bewegung gegen Stuttgart 21 hat sich viel kreatives Potenzial versammelt. Wird diese Energie einfach verpuffen?
Wir werden zunächst eine Verfallserscheinung sehen. Die Schlagkraft der Bewegung kam aus ihrer Verschiedenheit. Die einen haben auf Rechnungslegung bestanden, den anderen war ihre schöne Stadt wichtig, die sie bewahren wollen, und die dritte Gruppe hat eine erhöhte Sensibilität gegenüber ökologischen Fragen. Diese heterogenen Ziele haben wundersamerweise im gemeinsamen Protest harmoniert. Nachdem es jetzt eine Negativratifizierung durch die Volksabstimmung gegeben hat, wird die Protestbewegung wieder in ihre einzelnen Bestandteile auseinanderfallen. Als abrufbares Potenzial ist sie aber noch da.


Wie wichtig sind soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook für die Protestbewegungen der Gegenwart?
Sehr wichtig. Dort kann man sich verabreden und diskutieren. Das ist die positive Seite: Informationsbeschaffung und Austausch. Aber diese Netzwerke saugen auch viel Energie auf. Der Übergang von politischer Diskursivität in persönlichen Klatsch ist sehr fließend. Das ist das Verführerische.

Und solange man vor dem Bildschirm sitzt, tritt man nicht in Aktion.
Genau. Wenn man protestiert, erlebt man dagegen etwas live, in echt und nicht nur vermittelt über das Netz. Man will auch den Körper spüren beim Einsatz für die gemeinsame Sache.

Individualisten finden sich auf der Straße zusammen und tun Dinge, die man eigentlich uncool findet. Sich an den Händen halten etwa.
Genau. Die Generation Facebook besteht ja aus absoluten Peinlichkeitsexperten. Alle sind geschult in Ironie. Und plötzlich, wenn man gemeinsam in Erscheinung tritt, gibt es keine Peinlichkeiten mehr.

Die Jugend hat den Ruf, unpolitisch zu sein. Ändert die Occupy-Bewegung dieses Bild?
Occupy trifft eine Stimmung, die bei vielen jungen Menschen weltweit verbreitet ist. Bei allen findet man eine Leerstelle der politischen Leidenschaft. Wir befinden uns in einer ideologischen Pattsituation. Man sagt sich nicht vom Kapitalismus als solchem los, sondern nur von einer bestimmten Ausprägung. Niemand will den Markt abschaffen. Genauso wird aber niemand behaupten, jetzt soll der Markt alles regeln, weil man die Staatsüberschuldung für problematisch hält. In dieser Situation ist es schwer, einen Ausdruck des politischen Impulses zu finden. Ich fürchte, die Occupy-Bewegung ist aber nur ein Randgruppen- und kein Generationsphänomen. Sie wirkt hilfloser als andere Protestbewegungen.

Könnte das daran liegen, dass dieser Protestbewegung die charismatischen Führungspersonen fehlen?
Nein. Wenn man die Protestbewegungen von Chile bis zu den USA genau anschaut, merken Sie, dass alle Beteiligten allergisch gegen Vorturnerfiguren sind.

Wann haben Sie selbst das letzte Mal protestiert?
Vor vier Jahren war ich aus alter Anhänglichkeit mit der Arbeiterbewegung mit meiner kleinen Tochter bei der zentralen Demonstration des DGB zum 1. Mai in Berlin.