Angriff aus Brüssel auf das deutsche Sozialsystem Foto: dpa

Im Ausland leben und arbeiten – Europa macht es seinen Bürgern einfach. Doch wenn es ums Geld geht, wird es schwierig. Das deutsche Sozialrecht sei zu streng, findet die EU-Kommission.

Brüssel/Berlin - Es ist der vielleicht schärfste Angriff Brüssels auf das deutsche Sozialsystem. Und er sorgt am Freitag prompt für massiven Ärger. „Brandgefährlich“ nennt der Chef der CSU-Abgeordneten im Europäischen Parlament, Markus Ferber, das 40-seitige Papier aus der Feder der Europäischen Kommission, dessen wichtigste Botschaft lautet: Zuwanderer aus anderen EU-Staaten haben durchaus Anspruch auf Grundsicherung, Kindergeld und andere Leistungen zur Existenzsicherung, auch wenn sie in Deutschland gar keine Arbeit suchen.

Zwar handelt es sich nicht um einen offiziellen Gesetzentwurf der EU-Kommission, sondern lediglich um eine Stellungnahme für den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Doch das Dokument, das unserer Zeitung vorliegt, hat es in sich. Denn es stellt alle bisherigen Äußerungen von Mitgliedern des Barroso-Teams völlig auf den Kopf. Noch vor wenigen Monaten hatte beispielsweise Justizkommissarin Viviane Reding betont: „Es gibt ein Recht auf Freizügigkeit, aber kein Recht auf Einwanderung in die nationalen Sicherungssysteme.“ Nun bejahen die Autoren des Papiers ausdrücklich, dass Leistungen zu zahlen sind, wenn deren Verweigerung dazu führen könnte, dass jemandem die Aufenthaltserlaubnis entzogen wird, weil er nicht genügend Mittel zur Lebenshaltung nachweisen kann.

Eine rumänische Mutter klagt

Anlass der Stellungnahme ist die Klage einer 24-jährigen rumänischen Mutter, die seit 2010 mit ihrem Sohn dauerhaft in Deutschland bei ihrer Schwester lebt. Der Frau waren Kindergeld und ein Unterhaltsvorschuss vom Jugendamt zugesprochen worden. Da sie keine Arbeit aufgenommen und auch nicht gesucht hatte, lehnte das zuständige Jobcenter in Leipzig die Zahlung von Hartz IV ab. Daraufhin klagte die Frau vor dem zuständigen Sozialgericht, das den EuGH einschaltete. Das Urteil in der Rechtssache C-333/13 wird erst in einigen Monaten erwartet.

Die Position der Europäischen Kommission aber sorgt schon jetzt für Wirbel. „Brüssel darf vor lauter Solidarität den europäischen Gedanken nicht überstrapazieren“, warnen Ferber und andere Parlamentsabgeordnete. „Die nationalen sozialen Sicherungssysteme sind kein Selbstbedienungsladen für alle Europäer, die zu uns kommen“, sagt Generalsekretär Andreas Scheuer am Freitag in München. „Es ist für mich schockierend, wie die EU-Kommission leichtfertig die nationalen Sicherungssysteme damit torpediert.“ Scheuer nennt die Brüsseler Stellungnahme „fatal“ und einen „eurokratischen Wahnsinn“, dem man Einhalt gebieten müsse.

Bisher schienen die kritischen Töne vor allem aus den Reihen der CSU vielen überzogen zu sein. Hatten doch alle EU-Institutionen stets darauf verwiesen, dass es innerhalb der ersten drei Monate nach der Zuwanderung keine Sozialleistungen gebe. Und auch später würde lediglich gezahlt, wenn man sich Ansprüche erworben habe. Sozialexperten blieben jedoch immer schon skeptisch. Allein die Tatsache, dass bei der Prüfung der Unterlagen der Pass gefordert sei, genügte in ihren Augen, um eine Benachteiligung von Bürgerinnen und Bürgern aus anderen Mitgliedstaaten anzunehmen.

Angst in der EU-Kommission

Doch die offensichtliche Kehrtwende der Brüsseler Kommission, für die der ungarische Sozialdemokrat Kommissar László Andor verantwortlich zeichnet, öffnet Türen, die die Bundesregierung bisher verschlossen lassen wollte: Arbeitsuchende Zuwanderer sollten grundsätzlich von den Sozialleistungen ausgeschlossen bleiben.

Wie groß die Angst vor der nun aufbrechenden Diskussion in Brüssel ist, machte am Freitagmittag die Sprecherin von Kommissionschef José Manuel Barroso deutlich. Sie widersprach energisch „den Andeutungen und Anschuldigungen, wonach die Kommission Deutschland drängt, allen arbeitslosen EU-Bürgern im Land Sozialhilfe zu gewähren“. Diese seien „komplett falsch“. Am Freitagnachmittag schickte man noch eine weitere Klarstellung hinterher: „Deutschland muss nicht allen arbeitslosen EU-Bürgern hierzulande Sozialhilfe zahlen.“

Doch der Versuch, die losgetretene Auseinandersetzung noch einzufangen, misslang. Denn das vorliegende Dokument lässt keine Zweifel zu: Zum einen wird Deutschland aufgefordert, künftig jeden Einzelfall für sich zu betrachten und erst dann über die Zuerkennung von Sozialleistungen zu entscheiden. Zum Zweiten sollen die bundesdeutschen Behörden die Existenzsicherung übernehmen, wenn deren Fehlen zu einer Ausweisung führen könnte. Diese ist nämlich auch bei EU-Bürgern möglich, vorausgesetzt sie haben keinen Job und fallen dem Gastland zur Last.

Vorwürfe auch gegen Großbritannien

Dabei treffen die Vorwürfe aus Brüssel nicht nur Deutschland. Erst vor wenigen Tagen hatte der konservative britische Premierminister David Cameron angekündigt, er werde die soziale Sicherung in Großbritannien umbauen, so dass Zuwanderer innerhalb des ersten Vierteljahres keine Ansprüche mehr hätten. In den Niederlanden, Frankreich, Italien, Spanien, Belgien, Schweden – überall gilt zumindest eine dreimonatige Sperrfrist. In einigen Ländern wurde sie durch nationale Gesetze noch weiter ausgedehnt.

Diese weit verbreitete Gesetzeslage hat die Kommission nun torpediert und damit einen breiten Streit ausgelöst, der – wenige Wochen vor den Europawahlen – durchaus kontraproduktiv sein könnte. „Wir liefern den rechten und EU-kritischen Parteien doch am laufenden Band Munition“, schimpfte am Freitag ein führendes Mitglied des Europäischen Parlaments. „Das Thema müssen wir so schnell wie möglich vom Tisch bekommen.“ Doch dafür dürfte es zu spät sein.