Arbeiten daheim klingt verlockend und hat gewiss seine Vorzüge. Tatsächlich aber verdienen viele Laptop-Arbeiter Hungerlöhne und sind sozial schlecht abgesichert. Foto: E+

Weil die Arbeitswelt digitaler wird, kommen auf die Sozialgerichte immer mehr Fälle von Scheinselbstständigkeit zu. Dies hat Konsequenzen nicht nur für eine wachsende Zahl von häufig sehr schlecht bezahlten „Laptop-Arbeitern“.

Stuttgart - Die Digitalisierung der Arbeitswelt beschäftigt zunehmend die Sozialgerichte im Land. „Die heutigen Laptop-Arbeiter sind für uns eine Herausforderung“, sagte Heike Haseloff-Grupp, Präsidentin des Landessozialgerichts am Dienstag in Stuttgart. Zentrales Thema der aufwendigen Verfahren ist die Scheinselbstständigkeit. Die Betroffenen seien oft „sehr findig“ bei der Verschleierung einer tatsächlich abhängigen Beschäftigung.

Im April erging eine Entscheidung im Fall eines IT-Dienstleisters aus dem Rhein-Neckar-Raum. Seine Internetplattform hatte Endkunden und IT-Kräfte vermittelt. Vor Gericht aber wollte keiner der Arbeitgeber sein, und die Servicekräfte bezeichneten sich als selbstständig. Das Sozialgericht sah das anders: „Der Plattformbetreiber fungierte als Arbeitgeber“, sagt Richter Steffen Luik. Urteile wie diese seien von weitreichender Bedeutung für die Gesellschaft: „Es geht um den Eintritt von Menschen in das Schutzsystem der Sozialversicherung und um die Frage, wie dieses System im Zukunft finanziert wird“, so Luik.

Die Gerichte stehen bei ihren zeitraubenden Ermittlungen oft vor der Frage: Was ist heute eine abhängige Beschäftigung? Kriterien seien, ob eine „Tätigkeit nach Weisungen“ vorliege und die „Eingliederung in eine Organisation“, so Luik. Dies muss im Einzelfall nachgewiesen werden. Was heute schwierig ist, da Beschäftigungen mit festen Zeiten im Büro oder in der Fabrik an Gewicht verliert und kurzfristige Projektjobs sowie wechselnde Teams ohne klare Hierarchie häufiger werden. Luik: „Entscheidungsprozesse ändern sich, Weisungsketten lösen sich auf.“

Die Arbeitswelt verändert sich rasant

Genaue Zahlen zu den Verfahren liegen nicht vor. Dass sie stark zunehmen, lässt sich daran sehen, dass inzwischen fünf Senate im Sozialgericht mit jeweils drei bis vier Richtern sich ausschließlich mit Scheinselbstständigkeit befassen. Bis vor kurzen waren es noch zwei Senate. „Die Solo-Selbstständigen, die mit ihrem Laptop rumziehen“, haben so zugenommen, dass sie „mehr als die Hälfte der Selbstständigen“ ausmachen, sagt Richter Luik. Laptop-Arbeiter erhielten oft nur „Hungerlöhne“, die nicht selten unter dem Mindestlohn liegen. Es sei erfreulich, dass der Gesetzgeber erkannt habe, dass hier Handlungsbedarf bestehe, „dass diese Gruppe nicht durch das soziale Netz fällt“. Vor neuen Fragen stellt die Gerichte auch das Thema Homeoffice. Handelt es sich etwa um einen Arbeitsunfall, wenn ein zuhause tätiger Mitarbeiter daheim verletzt?

Krankenhäuser sind im Fokus

Scheinselbstständigkeit kommt auch vermehrt im Gesundheitswesen vor. Etwa dass Ärzte und Krankenpflegepersonal als freie Mitarbeiter tätig sind. Dies sei in der Regel kaum möglich, erklärt Steffen Luik: Auch ein Arzt, der nur in die Rufbereitschaft einer Klinik integriert ist, sei abhängig beschäftigt. Ein Krankenpfleger, der als Assistent bei einem Anästhesisten arbeite, sei „in dessen Praxisorganisation eingebunden“. Eine Ausnahme habe das Gericht nur bei einem niedergelassenen Arzt gemacht, der auf Honorarbasis selbstbestimmt für eine Klinik tätig war, so Luik. Erklären kann man sich die Häufung der Fälle nicht. Die Kliniken argumentierten mitunter, dass sie nur auf diese Weise das nötige Personal bekämen.

Flüchtlingswelle bis jetzt kein Thema beim Sozialgericht

Beruhigt hat sich die Lage bei den Hartz-IV-Verfahren. Nach der Arbeitsmarktreform vor mehr als zehn Jahren war die Zahl der Fälle bei den Sozialgerichten im Land von vorher etwa 30 000 auf bis zu 40 000 hochgeschnellt. Das System habe sich aber inzwischen „gut stabilisiert“, so Gerichtspräsidentin Haseloff-Grupp. Bisher keinen Niederschlag habe die Flüchtlingswelle bei den Sozialgerichten gefunden.

Weder was das Asylbewerberleistungsgesetz anlangt noch im Bereich von Hartz IV, obwohl heute viele anerkannte Asylsuchende im Hartz-IV-Bezug seien, so Haseloff-Grupp, die nach zwölf Jahren an der Spitze des Landessozialgerichts im September in den Ruhestand geht.