Ein Schild im russischen Gebirgsort Krasnaja Poljana weist auf das etwa 40 Kilometer entfernt stattfindende Weltereignis hin: Die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi. Foto: dpa

An diesem Freitag ist es soweit: In Sotschi beginnen die Olympischen Winterspiele. Auch wenn es nicht überall den Anschein hat: Vielerorts wird noch gehämmert, gebohrt und geschraubt.

An diesem Freitag ist es soweit: In Sotschi beginnen die Olympischen Winterspiele. Auch wenn es nicht überall den Anschein hat: Vielerorts wird noch gehämmert, gebohrt und geschraubt.

Sotschi - Es gibt durchaus Gründe, warum das grüne Herz von Michael Vesper in Sotschi höher schlagen könnte. Der Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), einst Gründungsmitglied der Grünen, müsste sich nur in den Zug setzen, der neuerdings die Bergregion um Krasnaja Poljana mit der Innenstadt der russischen Schwarzmeermetropole verbindet. Dann wüsste er, wie es hier läuft: „In Harmony With Nature“ – Im Einklang mit der Natur. So liest man es auf den Aufklebern in den nagelneuen Zügen. Doch Vesper ist skeptisch: „Mein grünes Herz hat das alles sehr kritisch gesehen.“ Die Gründe hierfür ziehen auf der Fahrt an einem vorbei. Wenn es hinaufgeht von der Schwarzmeerküste in die Berge des Kaukasus.

Vorbei am komplett neu errichteten Olympic Park, der mit seinen futuristischen Sportstätten wirkt, als beherberge die Region eine Ausstellung für Zukunftsvisionen. Vorbei am Flughafen Adler, den es in dieser Form ebenfalls noch nicht lange gibt. Und durch ein Tal, von dessen Ursprünglichkeit nicht mehr viel geblieben ist, seit vor sieben Jahren die Stadt Sotschi den Zuschlag für die Ausrichtung der Olympischen Winterspiele bekommen hat.

„Wir sind uns bewusst, was für eine schwere Entscheidung es war, die Spiele an eine Stadt zu vergeben, die nur zehn bis 15 Prozent der notwendigen Infrastruktur hatte“, sagt Russlands Staatsoberhaupt Wladimir Putin. Persönlich hatte er die Bewerbung initiiert und vorangetrieben. Dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) dankt er regelmäßig für das in Russland gesetzte Vertrauen. Und doch begleitet das Projekt Sotschi 2014 seit sieben Jahren eine Frage: Ist das Vertrauen gerechtfertigt?

Eine Megabaustelle im Bandwurmformat

Man kann die Frage beim Anblick des Tals auch anders stellen: War das alles wirklich notwendig? Zwischen bewaldeten Hügeln zieht sich über Kilometer eine breite Schneise. Wenn hier nicht auch etwas entstanden wäre, würde man sagen: eine Schneise der Zerstörung. So aber wirkt das Ganze wie eine Megabaustelle im Bandwurmformat.

Der kleine Fluss wird immer wieder umgeleitet oder in ein Bett aus Beton gezwungen. Eine zweispurige Straße hat es schon gegeben, deren Ausbau schien aber nicht genug. Jetzt gibt es zusätzlich eine vierspurige Autobahn. Die Bahntrasse für die Schnellbahn wurde auf ein kilometerlanges Beton-Stativ gebettet. Und kurz bevor man das Gebirgsdorf Krasnaja Poljana erreicht, erinnert die neue Skisprunganlage an den vorrangigen Zweck dieser Megamodernisierung. Rechts und links der zwei Schanzen wird der teils abgetragene Hang mit riesigen Betonwänden abgestützt. Im Dorf selbst, rund 40 Kilometer vom Olympic Park entfernt, erlebt der Besucher dann hautnah mit, wie aus dem Nichts Neues entsteht.

Sieben Jahre haben sie hier geplant, gegraben, gebaggert und gebaut. Wenige Stunden und Tage vor Eröffnung der Olympischen Winterspiele ist die Zeit dennoch knapp geworden. Straßen, Bahntrassen, Sportstätten und Athleten-Unterkünfte sind fertig. Von den Hotels in Krasnaja Poljana – in denen hauptsächlich Medienvertreter untergebracht sind – kann man das nicht behaupten.

Die Hotels sind Provisorien

Die Schriftzüge der Hotels werden gerade erst montiert, ganze Stockwerke befinden sich noch im Rohbau, Hunderte Mülleimer warten in einem Lagerraum auf ihren Einsatz. Als fertig gilt, was einigermaßen bezugsbereit ist – Baustaub spielt da keine Rolle. Die Ankömmlinge wurden in den vergangenen Tagen auf Zimmer und Apartments verteilt, die bereits zur Verfügung standen. Das Inventar zog erst mit und teilweise nach ihnen ein. Ein Mitglied des Hotelpersonals sagt zu Wochenbeginn, die Unterkünfte seien in manchen Bereichen zu 80 Prozent fertiggestellt. In anderen erst zu 35 Prozent. Klar wird aber: Man gibt sich Mühe. Die meist türkischen Arbeiter und Servicekräfte schuften fast rund um die Uhr. Es wird gehämmert, geschraubt, geschweißt, gemalert, eingeräumt und ausgestattet. Doch selbst einen Tag vor dem Start der Spiele prangen am riesigen Einkaufszentrum noch Schilder mit den Worten: „Opening soon“, bald wird eröffnet. Manche Regale sind noch leer. Alles in allem wirkt die Szenerie wie ein riesengroßes Provisorium.

Erstaunlich, dass sich das Organisationskomitee diese Blöße gegeben hat. Schließlich hätte es bei der anhaltenden Kritik an Sotschi als Austragungsort kaum wichtigeres geben sollen, als den Besuchern ein perfektes Szenario zu präsentieren. So verliert das Bild vom modernen Russland, von Macht, Kompetenz und Schaffenskraft an Wirkung. Andererseits wird aber auch deutlich, wie ambitioniert dieses Vorhaben war, innerhalb von sieben Jahren etwas zu erschaffen, was andernorts in Jahrzehnten gewachsen ist. „Auch in den Alpen hat es diese Eingriffe gegeben“, sagt Michael Vesper, „aber nicht in dieser zeitlich massierten Form.“ Und diese Eile hat schon jetzt ihre tiefen Spuren hinterlassen.

Nicht nur, dass die Zeit am Ende knapp wurde. Vieles wirkt, als werde es lediglich für die kommenden Wochen fertiggestellt. In den Bauboom mischt sich Baupfusch. Vieles muss in den nächsten Jahren wohl ausgetauscht oder nachgebessert werden. Schon jetzt gibt es Schlaglöcher, schon jetzt bröckelt der Putz, schon jetzt brechen die Treppenstufen, und die Straßen gleichen mancherorts einer Wellenbahn. Die Dimensionen sind dennoch beeindruckend. Baulich – und finanziell.

Gesamtkosten der Spiele: 40 Milliarden Euro

„Im normalen Rahmen“, sagt IOC-Präsident Thomas Bach, seien die Kosten für die Austragung der Olympischen Winterspiele in Sotschi. Von rund 5,5 Milliarden Euro geht er dabei wohl aus. Die Investitionen in die nahezu komplett fehlende Infrastruktur sind da kaum berücksichtigt. Insgesamt sollen Spiele und Baumaßnahmen rund 40 Milliarden Euro verschlingen. Schwer zu sagen, welcher Teil des Geldes dabei sinnvoll und zukunftsträchtig angelegt ist. Welchen Nutzen die Stadt später haben wird.

Die Bahnfahrt vom Olympiagelände bis in den Stadtkern Sotschis dauert etwas über ein halbe Stunde – und hätte eigentlich das Zeug dazu, in die Liste der schönsten Strecken Europas aufgenommen zu werden. Die Gleise verlaufen parallel zum Schwarzmeerstand, ein dauerhafter Meerblick ist garantiert – der Blick auf die Baracken am Kiesstrand und herunter gekommene Strandbäder allerdings auch. Der bauliche Nachholbedarf ist offensichtlich, der gesellschaftliche zumindest zu erahnen. Der Bahnhof von Sotschi – wie vor allen Stationen steht vor ihm eine großes Gebäude für Sicherheitskontrollen – wurde für die Winterspiele immerhin noch einmal umgebaut, olympische Symbole prägen das Bild des Zentrums, das von dem Wettkämpfen im Grunde aber abgekoppelt ist. Was also hält man hier von Olympia?

Inga steht in ihrem kleinen Laden in einem riesigen langgezogenen Einkaufszentrum. Sie bietet viel Glitzerndes, Schmuck, Accessoires, auch Kitschiges. Für zwei goldene Stühle will sie 4000 US-Dollar (2941 Euro). Sie ist jung, ihr Englisch rudimentär. Auf die Frage nach dem Nutzen der Spiele senkt sie beide Daumen. Zwar habe sie Freundinnen, die sich die Wettkämpfe anschauen wollen, die Hoffnung auf dauerhaft mehr Touristen für den bisherigen Kur- und Badeort am Schwarzen Meer hat sie aber nicht. Warum auch?

Was kommt nach Olympia?

Ob der Plan, künftig reiche Touristen statt nach Sankt Moritz und Lech in diese Region zu locken, aufgeht, ist ebenso fraglich wie der politische Nutzen dieser Spiele in Russland. Wie immer, wenn die Spiele in Länder mit fragwürdigem Demokratieverständnis ihrer Regierung vergeben werden, ist die Kritik Mancher groß. Andere sagen: Die Probleme werden im Fokus der Spiele immerhin angesprochen und ausführlich beleuchtet. Der deutsche Skirennläufer Felix Neureuther meint, die hohen Investitionssummen hätten durchaus ihre Berechtigung, wenn sich „in Russland politisch etwas verändern würde“. Ansonsten aber sei es „rausgeworfenes Geld“.

Eine Garantie, dass sich nach dem Ende der olympischen und paralympischen Spiele dauerhaft etwas ändert an den Zuständen, gibt es nicht. Zumal sich das IOC bemüht, die eigene Rolle als neutraler Partner der Gastgeber herauszustreichen. „Das IOC hat kein politisches Mandat“, betont IOC-Präsident Bach, und ergänzt ein wenig kryptisch: „Es ist politisch neutral, ohne apolitisch zu sein.“

Sotschi und Russland immerhin werden auch nach Olympia weiter im Blickpunkt stehen. Die Judo- und Schwimmweltmeisterschaften kommen bald ins Land, 2018 finden auch am Schwarzen Meer Spiele der Fußball-Weltmeisterschaft statt. Und vom kommenden Herbst an gastiert die Formel 1 in Sotschi. Für den eigentlichen Kurort soll das ebenfalls ein Fortschritt sein. Michael Vespers grünes Herz wird aber weiter schmerzen.