Madame Rosa (Sophia Loren) versucht, Momò (Ibrahima Gueye) in die Spur zu bringen Foto: /. Foto: Netflix/Regine de Lazzaris aka Greta

Die italienische Hollywooddiva Sophia Loren hat mit 86 einen Film für Netflix gemacht: In „Du hast das Leben vor dir“ spielt sie eine Holocaustüberlebende in Bari, die sich um gestrandete Kinder kümmert.

Stuttgart - „Madame Rosa, immer noch kennen Sie die Kunst der Verführung mit den Augen und der Stimme“, sagt der Kioskbesitzer Hamil, und man ahnt, dass er nicht nur die Filmfigur meint, sondern auch die Schauspielerin, die diese Madame Rosa verkörpert: Die italienische Filmdiva Sophia Loren ist zurück und hat mit ihren 86 Jahren nichts von ihrer Ausstrahlung verloren.

Gütig, aber streng, wacht die hochgewachsene alte Dame, die schon viel erlebt hat, über ihre Schützlinge. Da taucht der zwölfjährige Senegalese Momò (Ibrahima Gueye) auf und erweist sich als echte Herausforderung. Obwohl er sie auf dem Markt beklaut hat, nimmt sie ihn auf, doch er ist misstrauisch, abweisend und unverschämt – ein traumatisiertes Waisenkind, das sich hinter einem Schutzpanzer versteckt, eine geschundene Seele wie Madame Rosa selbst, die als jüdisches Mädchen den Holocaust überlebt hat.

Ethnien, Religionen und Diversitäten prallen aufeinander

Der Regisseur des Films ist Edoardo Ponti, Sophia Lorens Sohn mit ihrem ersten Mann und Mentor, dem Filmproduzenten Carlo Ponti. Er hat seine Mutter schon 2002 für das Drama „Zwischen Fremden“ zurück ans Set gelockt und nun einen Roman des litauischen Wahlfranzosen Romain Gary von 1975 adaptiert. Ponti verlegt die Handlung aus dem Einwanderermilieu der Pariser Banlieue ins süditalienische Bari zu den Flüchtlingen der Gegenwart.

Sophia Loren ist das Kraftzentrum, sie geht als Madame Rosa stets erhobenen Hauptes, egal, wie das Leben spielt. Dabei lässt sie den Widerspruch aufblitzen zwischen der Fassade der gepflegten Frau und den Brüchen dahinter. Ibrahima Gueye empfiehlt sich als Momò: Es ist erstaunlich, wie differenziert er das Dilemma und die Wandlung des Jungen verkörpert, wie er ständig den Kampf sucht und in raren Glücksmomenten förmlich erblüht.

Das Figurentableau um die beiden ist breit gefächert und entspricht der realen Vielfalt in europäischen Städten, wo Ethnien, Religionen und Diversitäten aufeinanderprallen. Zu Momòs Mentor wird der Kioskbesitzer Hamil, der früher Teppiche und Bücher verkauft hat und nun „nur noch Plastik“ in den Regalen hat. Er öffnet dem intelligenten, widerwilligen Jungen das Tor, sein geistiges Potenzial zu nutzen. „Das Wort ist die stärkste Waffe!“, sagt Hamil und legt Momò Victor Hugos Vorstadtroman „Les misérables“ von 1862 nahe – zunächst vergeblich.

Überall heimatlose Kinder

Der iranische Regisseur Asghar Farhadi spielt diesen in der Fremde gestrandeten Weisen, und er ist eine ideale Besetzung: Hamil durchdringt die Komplexität der Welt und der menschlichen Beziehungen auf ähnlich tiefgründige Art wie der Filmemacher selbst in seinen klugen Filmen „Nader und Simin“ (2011) und „The Salesman“ (2016), für die er jeweils den Auslands-Oscar bekommen hat.

Eine weitere wichtige Rolle spielt ein in die Jahre gekommener Arzt, der seinen hippokratischen Eid ernst nimmt und Menschen hilft weit übers Medizinische hinaus – auch seine Wohnung ist voller heimatloser Kinder. Als Madame Rosas beste Freundin und eine Art Tochterersatz fungiert die spanische Transfrau Lola, früher Boxer und eine Seele von Mensch, die im emotionalen Strudel der Stigmatisierung unterzugehen droht und in der Not auf den Strich geht. Madame Rosa hütet oft Lolas Kleinkind, außerdem wohnt bei ihr ein kleiner Nordafrikaner ohne Papiere, dessen Mutter verschwunden ist.

Eine kriminelle Karriere lockt

Schließlich ist da noch der italienische Gauner, der junge Migranten mit Drogengeld lockt und sie als Dealer rekrutiert. Momò mit seinem hellen Köpfchen könnte bei ihm schnell Karriere machen – doch als sich Madame Rosas Gesundheitszustand verschlechtert und sich ihre Aussetzer häufen, droht er sein zunächst ungeliebtes Zuhause zu verlieren und fängt an, sich zu besinnen.

Pontis Film ist eine Ode an die Macht des Miteinanders. Nicht die Konflikte stehen bei ihm im Vordergrund, sondern die Möglichkeiten, die sich auftun, wenn Menschen aufeinander achten und füreinander da sind. Das spiegelt sich in der Bildsprache: Ponti stellt nicht das Elend Süditaliens aus, sondern die berückende Schönheit der Küstenstadt Bari.

Ab sofort auf Netflix.

Wie Sophia Loren zum italienischen Weltstar wurde

Kindheit
Geboren am 20. September 1934 in Rom, wächst Sofia Villani Scicolone bei ihrer alleinerziehenden Mutter in Pozzuoli bei Neapel auf. Sie kellnert in der Wohnzimmerkneipe ihrer Großmutter und wird mit 15 Zweite beim Schönheitswettbewerb Miss Italia.

Filmkarriere
1951 geht sie an die Filmhochschule in Rom und tritt als Komparsin im Hollywoodepos „Quo Vadis“ auf, das im Filmstudio Cinecittà gedreht wird. Der Produzent Carlo Ponti entdeckt sie, gibt ihr den Künstlernamen Sophia Loren, wird ihr Förderer und später ihr Ehemann. 1954 gelingt Loren der Durchbruch in Vittorio de Sicas Episodenfilm „Das Gold von Neapel“. Außerdem steht sie in „Schade, dass du eine Kanaille bist“ erstmals mit Marcello Mastroianni vor der Kamera, mit dem sie über Jahre ein italienisches Leinwandtraumpaar bildet.

Hollywood
1957 folgt Sophia Loren dem Ruf Hollywoods und ist gleich neben Cary Grant und Frank Sinatra zu sehen im Historienspektakel „Stolz und Leidenschaft“. Nach der Komödie „Hausboot“ (1958), wieder mit Cary Grant, liegt ihr Amerika zu Füßen. Sie dreht mit vielen US-Stars der Zeit: Anthony Quinn in „Die schwarze Orchidee“ (1959), Clark Gable in „Es begann in Neapel“ (1960), Charlton Heston in „El Cid“ (1961), Gregory Peck in „Arabeske“ (1966), Marlon Brando in „Die Gräfin von Hongkong“ (1966). Ihren einzigen Oscar als Hauptdarstellerin bekommt Sophia Loren aber für einen italienischen Film: das Melodram „Und dennoch leben sie“ (1960) von Vittorio de Sica.