Foto: privat

Andreas Hennings ist vor sieben Jahren mit dem Fahrrad ans Nordkap gefahren. Die beeindruckende Natur Skandinaviens lernte er dabei intensiv kennen.

Es passierte auf der Europastraße 45, im Nirgendwo von Lappland zwischen der finnisch-norwegischen Grenze und dem Samen-Städtchen Kautokeino. Rund 350 Kilometer nördlich des Polarkreises. Norwegen hatte mich zuvor mit einem Bilderbuch-Regenbogen begrüßt, der aus meiner Perspektive genau einen Bogen über das Grenzschild schlug. Es war August 2011, als ich mit dem Fahrrad in dieser menschenleeren Landschaft unterwegs war. Das Ziel meiner Radtour: das Nordkap, wovon ich noch fünf Tages-Etappen entfernt war.

Die Etappe dieses Tages neigte sich ihrem Ende entgegen. Die Sonne verschwindet hier zu dieser Jahreszeit zwar nur kurz hinterm Horizont, für mich war es in der Dämmerung dennoch an der Zeit zu schlafen. Während ich also auf der meist schnurstracks-geradeaus führenden E45 radelte, hielt ich Ausschau nach einer geeigneten Stelle für mein Zelt. Das ist in Skandinavien einfach, zelten darf man überall in freier Wildbahn. Zwischen den Büschen und Sträuchern – die Baumgrenze hatte ich schon hinter mir gelassen – blickte ich also nach links und rechts, um eine ebene, trockene Fläche zu finden.

Jedenfalls tat ich das, bis sich vor mir plötzlich etwas bewegte. Ich schaute auf und mir war gleich klar: Da, rund 100 Meter vor mir, läuft ein Bär über die Straße. Ja, ein Bär! Die Statur und die Gangart waren unverkennbar. Ohne sich auf der Fahrbahn umzusehen schlenderte er von einer zur anderen Straßenseite. Nun mögen 100 Meter viel klingen – in einer menschenleeren Gegend, in der nichts den Blick an den Horizont stört, kam mir das aber nicht allzu weit entfernt vor.

Ein Bär! Nichtmal einen Elch habe ich während meiner dreiwöchigen Tour durch Skandinavien zu Gesicht bekommen – wer rechnet da gleich mit einem Bären? Ich war fasziniert und geschockt zugleich. Fasziniert von diesem Anblick und davon, wie erhofft, Natur pur zu erleben. Und geschockt, da ich mich hier ja eigentlich nach einer Übernachtungsstätte umgesehen hatte. Aber schlafen, wo Bären unterwegs sind? Ich war 22 Jahre alt und hatte keine Ahnung, wie Bären in freier Wildbahn auf Menschen reagieren. Nur, dass Angriffe für Menschen meist tödlich enden, das wusste ich. Der Bär verschwand wieder im Gestrüpp, und ich überlegte mir auf der Weiterfahrt, wie ich vorgehen sollte. Meine Etappe verlängerte sich so um einige Kilometer und ich war beruhigt, als ich zwei Brücken über wilde Flüsse überquerte. Zumindest dieser Bär dürfte also nicht mehr in meiner direkten Umgebung gewesen sein.

Als ich ein einsames Wohnhaus am Straßenrand sah, entschied ich mich kurzerhand, in dessen Reichweite zu schlafen. Jedenfalls fühlte ich mich dort sicherer, da im Garten ein Hund bellte, bellte und – bellte. Erst als ich mich ins Zelt legte, wurde er still. Auf Anraten meiner Eltern, die ich anrief und mit einer Internet-Recherche über Bären beauftragte, hängte ich meine wenigen Lebensmittel noch in einen Baum, einige Meter vom Zelt entfernt. So wollte ich vermeiden, dass ein Bär die Lebensmittel riecht und sich mir nähert. Man mag es kaum glauben, aber ich schlief trotz der Bären-Begegnung schnell ein. Und sicherlich besser als meine Eltern zu Hause. Es ging auch alles gut, sodass ich meine Tour am nächsten Morgen wie gewohnt fortsetzte. Ein Bär begegnete mir nicht mehr, dafür sollten sich mir noch unzählige Rentiere in den Weg stellen. Natur pur eben!

Sowieso war es eine lohnenswerte Reise, die ich ohne große Vorbereitung angetreten hatte. Wenige Tage vor dem Beginn meiner letzten Semesterferien war mir klar geworden, dass ich die anstehende Freizeit nutzen sollte. Mit etwas, für das in den nächsten Jahren kaum Zeit sein wird. Die erste Idee, der Donau mit dem Rad bis ans Schwarze Meer zu folgen, wich dann dem Plan, ans Nordkap zu radeln und dabei wild zu campen. Erst zwei Tage vor meiner Abfahrt kaufte ich mir ein gebrauchtes Trekking-Rad, ein Zelt und eine Packtasche. Mit dem Auto ging es dann nach Stockholm, von wo aus ich die restliche Strecke mit dem Fahrrad bewältigte. Das waren immerhin 2238 Kilometer, was etwa der Strecke von Marbach nach Lissabon oder nach Istanbul entspricht. Ein Erlebnis, das ich nur wärmstens zur Nachahmung empfehlen kann – egal, ob mit oder ohne Bären-Begegnung!

Achja: Denke ich an jenen Abend zurück, überkommt mich noch immer diese Mischung aus Faszination und Unsicherheit. Bis heute weiß ich nicht, ob ich richtig gehandelt habe. Einerseits habe ich erfahren, dass Bären Menschen am liebsten einfach aus dem Weg gehen. Dafür kommen Bären mit Hunden weniger klar, da sie diese als Eindringlinge in ihr Revier ansehen. Werden Menschen durch Bären angegriffen, dann fast nur beim Gassigehen. Und so werte ich diese Beobachtung inzwischen einfach als großen Glückfall - denn wie ich ebenfalls in Erfahrung gebracht habe, wurde der Bestand an Braunbären in Norwegen 2011 auf 30 Tiere geschätzt (Schweden: 3000). Vielleicht sollte ich doch mal Lotto spielen…

Die Fakten:

Urlaubsjahr: 2011

Länder: Schweden, Finnland, Norwegen

Mit wem: alleine

Wie lange: 20 Tage auf dem Rad, dazu Hin- und Rückreise

Zur Person:

Andreas Hennings

Geboren 1989 in Ludwigsburg

Redakteur bei der Marbacher Zeitung seit 2016