Auf dem Pragfriedhof wimmelt es geradezu von Engeln. Viele Engel sind beschädigt. Einige sogar durch Granatsplitter im Zweiten Weltkrieg. Foto: Susanne Müller-Baji

“Stuttgart to go” entdeckt andere Perspektiven der Landeshauptstadt: Rund um den Rosenstein gibt es unerwartete Begegnungen – sogar mit Engeln.

Stuttgart - Nix wie raus aus den eigenen vier Wänden, auch wenn Reisen coronabedingt noch immer unsicher sind? Vor der eigenen Haustüre warten viele spannende Orte auf Entdeckung. Der Zeichner Thomas Bickelhaupt und unsere Mitarbeiterin Susanne Müller-Baji haben auf dem Pragfriedhof unter anderem einen himmlischen Konvent und andere große Geister entdeckt.

Nicht nur Engel bevölkern den Ort

Für Bickelhaupt lag das Thema bei der Zeichenexkursion auf dem Pragfriedhof im Stuttgarter Norden quasi auf der Hand: „Mich hat sehr beeindruckt, wie viele Engel dort sind – und viele davon ,behindert‘.“ Von Grabmal zu Grabmal zog er und erschuf einen himmlischen Konvent mit Handicap: Bei einem Engel fehlt der Flügel, seit Vandalen nicht einmal vor der Trauer anderer Halt gemacht haben. Dass ein anderes Flügelwesen durch einen Granatsplitter kriegsversehrt ist, hat der Zeichner von einem Friedhofsgärtner erfahren, der sinnigerweise Angelo, Engel, heißt. Doch nicht nur Engel – in menschlicher Gestalt wie in Stein gehauen – bevölkern den Ort. Auch der Himmel über dem Pragfriedhof ist erfüllt von großen Geistern.

Schriftsteller Eduard Mörike (1804-1875) und Künstler Willi Baumeister (1889-1955) blicken von hier aus herunter auf die Stadt, genauso wie der Herr der Luftschiffe, Ferdinand Graf von Zeppelin (1838-1917). Ein Grab erinnert auch an einen Mordfall, der zur damaligen Zeit das Gesprächsthema schlechthin war: Der königlich-württembergische Hofkapellmeister Aloys Obrist hatte Opernsängerin Anna Sutter (1871-1910) erschossen und sich dann selbst getötet – vermutlich, weil ihm die Diva die Ehe verweigert hatte. Zehntausend Stuttgarter sollen die Straßen gesäumt haben, als der Sarg zur letzten Ruhestätte gebracht wurde. Auch sonst schwirrt der Pragfriedhof vor Geschichte und Geschichten.

Kostenlose Informationen aus dem Internet

Wer beim Rundgang nicht wie Bickelhaupt zum Zeichenstift greifen möchte, sollte vielleicht ein Smartphone zur Hand haben, um die bewegten Lebensläufe der Verblichenen online nachlesen zu können: Hier ruht unter anderem der Schokoladenfabrikant Eduard Otto Moser (1818-1879), seinerzeit besser bekannt unter seinem Spitznamen „Bonboles-Moser“. Aber auch der Zimmermeister Johannes Nill (1825-1894), der auf seinem Firmengelände am Herdweg einen privaten Zoo betrieb – mit eigenem Sumatra-Nashorn. Die Braunbären des Nill’schen Tiergartens sind auf ihre ganz eigene Weise berühmt geworden: Nach ihrem Vorbild gestaltete Richard Steiff seinen Teddybären.

Auf einer der Friedhofsbänkle sitzend kann man auch zwei schwäbischen Abenteurern auf die Spur kommen: dem Afrikaforscher, Goldsucher und Kartograf Karl Gottlieb Mauch (1837-1875) und Martin Theodor von Heuglin (1824-1876), Afrika- und Polarforscher sowie Ornithologe. Ihre Reiseberichte können kostenlos heruntergeladen werden. Ein abenteuerliches Leseerlebnis für alle, die corona-bedingt auch 2021 nicht verreisen. Auch wenn heutige Reisen wohl kaum so abenteuerlich verlaufen würden.

Stuttgardia am Rathaus

Schließlich begegnet man noch einem Stuttgarter Symbol: Else Wallach geborene Weil, (1884-1955) stand Hofbildhauer Heinz Fritz (1873-1927) Modell für die Stuttgardia-Statue – der Schutzpatronin der Stadt. Die 2,41 Meter hohe und 120 Kilogramm schwere Bronze-Skulptur zierte seit 1905 das Hauptportal des Rathauses, blieb bei dessen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wie durch ein Wunder unversehrt. Nach einem Dornröschenschlaf im Städtischen Lapidarium wurde sie 1968 an der Fassade des neu gebauten Rathauses angebracht. Mag ihr menschliches Vorbild längst auf dem Pragfriedhof ruhen, im Herzen Stuttgarts ist ihr bronzenes Porträt unsterblich geworden.