Rebellischer Geist: die Sängerin Ana Tijoux Foto: Veranstalter

Die chilenische Sängerin Ana Tijoux hat das Sommerfestival der Kulturen auf dem Marktplatz in Stuttgart eröffnet.

Stuttgart - Zu sagen, Ana Tijoux habe die Rebellion mit der Muttermilch aufgesogen, wäre keineswegs eine Übertreibung. Die 39-Jährige kam 1977 im französischen Lille zur Welt, weil ihre Eltern in Chile mit vielen anderen Studenten gegen Pinochets Militärdiktatur auf die Straße gegangen waren und deswegen ihre Sicherheit im Exil suchen mussten. Mit fünf Jahren lernt sie erstmals die Heimat der Eltern kennen, erst mit sechzehn lässt sie sich dauerhaft in der neuen chilenischen Demokratie nieder. Da hat sie längst den Plan gefasst, Künstlerin zu werden, um gegen viele der Dinge anzusingen, gegen die auch schon ihre Eltern aufbegehrten. Heute ist sie weltweit und mit großen Erfolg unterwegs, trat schon bei den Grammys auf und ist ein gefragter Star auf internationalen Festivals. Das dürfte auch den mehr als gut gefüllten Raum vor der Stuttgarter Marktplatzbühne am Eröffnungstag des Sommerfestivals der Kulturen erklären.

Ein Festival für Weltoffenheit, Toleranz, Respekt und ein friedliches Miteinander – was würde besser zu einer wie Tijoux passen, die sich den Kampf gegen Unterdrückung, gegen Rassismus und gegen soziale Ungerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben hat? Ihre Musik, in den Neunzigern als Teil der legendären Hip-Hop-Gruppe Makiza noch stark vom französischen Hip-Hop beeinflusst, ist längst ebenso offen und scheuklappenlos wie ihre Weltsicht. Keck kombiniert sie Pop, Ska, Funk, südamerikanische Rhythmen und Rap, schweißt alles mit diesem Feuer und dieser unzähmbaren Leidenschaft zusammen, die klar auf ihre chilenische Herkunft schließen lassen. Auf der Bühne tanzt sie, hüpft sie, man bekommt schnell eine Ahnung von ihrem Temperament. Eine wie sie machte es ihren Eltern wahrscheinlich manchmal schwer, eine wie sie ließ sich vielleicht nicht immer etwas von Lehrern oder der Obrigkeit sagen. Eine wie sie setzt sich aber eben auch für die ein, die keine Stimme haben. Und das sind auf dieser Welt eine ganze Menge.

Es geht um Freiheit und Selbstbestimmung

„Nationalitäten zählen für mich nicht“, betont sie dann auch zwischen zwei Stücken. Zuvor sagte der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn zur offiziellen Festivaleröffnung etwas ganz Ähnliches. Tijoux wird es nicht verstanden haben, ihr charmantes Deutsch beschränkt sich auf einige Floskeln. Der OB hingegen, obgleich des Spanischen nicht mächtig, wird verstanden haben, was sie in ihren dringlichen Songs verkündet. Hier geht es unmissverständlich um Freiheit, um Selbstbestimmung, um enthemmte Sexualität. Das mag auf einer deutschen Bühne nicht allzu spektakulär klingen. In ihrer Heimat hat Ana Tijoux das zu einer der Vorreiterin des modernen Chile gemacht, zu einer Künstlerin, die die New York Times als Chiles Lauryn Hill bezeichnete. Für viele ihrer Landsleute ist sie ein Vorbild. Glamour sucht man bei der Sängerin dennoch vergebens. In einer besternten Strumpfhose steht sie auf der Bühne, ebenso leger wie cool gekleidet sind ihre sechs Mitmusiker.

In Stuttgart wird sie diesen hohen Weihen der letzten Jahre mehr als gerecht, führt mit ihrer aus Bläsern, Gitarrist, Keyboarder und Schlagzeuger bestehenden Band mal ungekünstelt und frisch, mal rappend, mal singend, mal anklagend und mal jubilierend durch den milden Abend. Dass Tijoux bei aller Kritik und Rebellion ihre lodernden Lieder lebensfroh, spritzig und strahlend vorträgt, ist eine große Geste. Anstatt in Verbitterung zu verfallen, tanzt und rappt sie neunzig Minuten lang Missstände einfach in Grund und Boden und vergisst auch das Augenzwinkern nicht. Musik für Bewegung, könnte man also dazu sagen. Und das nicht nur wegen der wogenden Leiber in der Menge.