Aus dem japanischen Tempelchen wächst eine Linde. Foto: Solitude Akademie

Es klingt ein bisschen nach einer Odyssee: Holzbalken, aus denen ein Japaner in Kalifornien einst einen Zen-Tempel errichtet hatte, sind in der Solitude-Akademie ausgestellt. Am gleichen Ort steht ein neues Bauwerk, das diesem Tempel nachempfunden ist.

Stuttgart - Als Ariel Schlesinger zum ersten Mal damit ankam, malte Jean-Baptiste Joly, der Direktor der Solitude-Akademie, ein dickes Fragezeichen in seinen Kalender: ein japanischer Tempel auf Solitude? Ganz so abwegig erschien die Idee nicht. Einen chinesischen Tempel gab es bereits zur Zeit Herzog Carl Eugens. Aber zwischen barocker Chinoiserie und heute klaffen Welten. Einen japanischen Zimmermann aus Kalifornien einzufliegen, schien dann doch allzu kühn.

Nun hat Schlesinger, bis zum vorigen Jahr Solitude-Stipendiat, diese Idee aber realisiert. Es ist nicht wirklich ein Tempel, der im Hofbereich der Akademie steht, eher die Erinnerung an einen anderen Tempel, der sich einmal in Kalifornien befand. Und das kam so: In Santa Cruz hatte Schlesinger, als er mit siebzehn Israel verließ und zu seiner Tante reiste, den Zimmermann Masao Sato kennengelernt und sich von ihm in dessen Handwerk einweisen lassen. Und Sato war es auch, der nun nach Stuttgart kam, um beim Nachbau des Tempels Hand anzulegen.

Ein größerer Gegensatz lässt sich nicht denken. Schlesinger ist klein, agil und erweckt den Eindruck, ständig ausweichen zu wollen. Sato, groß, bedächtig, in schwarzem Gewand mit japanischen Schriftzeichen, wägt seine Worte genau ab. Wer allerdings meint, einen Traditionalisten vor sich zu haben, der täuscht sich. Sato hat fünf Jahre seiner Kindheit in Frankreich verbracht und fand sich in Japan danach nicht mehr zurecht. Er wurde zum Dropout, wie er selbst sagt, und freundete sich in Kyoto mit amerikanischen Hippies an, die sich für das alte Holzhandwerk interessierten. Ohne strikte formelle Ausbildung wurde er so zum Zimmermann und landete in Kalifornien. Von 1986 an baute Sato dort in zweijähriger Arbeit einen kleinen Zen-Tempel, ganz allein, von Hand, ohne Maschinen. Ein Sturm im Gefolge des El-Niño-Phänomens zerstörte 1998 sein Werk. Eine weitere Katastrophe ereignete sich vier Jahre danach. Der Mönch Kōbun Shino Otogawa, Lehrer von Steve Jobs und Begründer des Zen-Zentrums von Santa Cruz, ertrank beim Versuch, seine Tochter zu retten in einem Schweizer See.

Im Container nach Berlin

Sato war untröstlich. Er hörte auf zu arbeiten. Eine innere Stimme sagte ihm, dass er die Überreste des Tempels weitergeben müsse. Die Wahl fiel auf Schlesinger, der die geschnitzten Balken in einen Container lud und nach Berlin schickte. Dort lagerten sie, bis er als Solitude-Stipendiat zu dem Schluss gelangte, dass es keinen geeigneteren, ja vielleicht keinen anderen Ort als die Akademie gebe, um den Tempel, oder vielmehr die Erinnerung daran, auferstehen zu lassen. Im Kabinettraum sind nun Balken aus dem Holz des Mammutbaums zu sehen, die von Satos ursprünglichem Tempel stammen, nun aber nicht verbaut wurden. Denn im Hof steht kein richtiger Tempel – es fehlt das Dach. Stattdessen wächst aus dem Bau eine Linde empor, die an dieser Stelle 1936 gepflanzt wurde.

In seiner Erdenschwere steht das Tempel-Memorial, entworfen von der Architektin Stephanie Choi, in Schlesingers Werk ziemlich für sich. Kleine kinetische Skulpturen aus Papier, leicht und beweglich, waren etwa in seiner ersten französischen Einzelausstellung 2011 im Schloss der Herzöge von Württemberg in Montbéliard zu sehen. Eine gleichzeitige Ausstellung im Kunstverein Braunschweig hieß: „Catastrophe is subjective“. Gefragt, was damit gemeint sei, antwortet der Künstler: „Ich bin da hineingeboren. Ich selbst habe keine Katastrophen erlebt.“ Seine Arbeit besteht darin, Auswege aus dem Verhängnis zu suchen.

Bis 24. Juni, Di–Fr 10–12 und 14–17 Uhr, Sa und So 12–17 Uhr.