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Mindestens neun Tote bei Angriff auf türkisches Passagierschiff - Heftige Reaktionen in Ankara.

Tel Aviv/Istanbul - Eine israelische Militäraktion gegen einen Schiffskonvoi mit Hilfslieferungen für den Gazastreifen ist gestern völlig außer Kontrolle geraten. Das blutige Vorgehen der Streitkräfte in internationalen Gewässern stieß im Ausland auf scharfe Kritik und Empörung.

Mindestens neun Tote, Dutzende Verletzte auf beiden Seiten und eine ganze Region in Aufruhr: Die Nachwehen des Gazakriegs und der umstrittenen Geheimdienstoperation in Dubai sind kaum ausgestanden, da macht Israel mit der gewaltsamen Erstürmung der "Gaza-Solidaritätsflotte" schon wieder weltweit Schlagzeilen. Auch viele Israelis sind schockiert. Kommentatoren sprechen von einem absoluten PR-Desaster. Israel sieht sich jetzt dem Vorwurf der Piraterie ausgesetzt, weil die sechs Schiffe nach Angaben der Organisatoren von Free Gaza eindeutig in internationalen Gewässern aufgebracht wurden. "Man sollte besser schlau sein, als recht haben", lautet ein israelisches Sprichwort.

In diesem Sinne hatten Kommentatoren der Regierung ans Herz gelegt, die mehr als 700 propalästinensischen Aktivisten mit ihrer kleinen Flotte einfach in den Gazastreifen fahren zu lassen - Seeblockade hin oder her. Die radikalislamische Hamas, die im Gazastreifen herrscht, hätte ihre 15 Minuten Ruhm gehabt. Und danach wäre die ganze Angelegenheit schnell vergessen gewesen. Doch die Regierung wählte die Konfrontation - ebenso wie die Aktivisten. Die lehnten das Angebot ab, die 10 000 Tonnen Hilfsgüter im Hafen von Aschdod zu löschen. Generatoren, Baumaterial, Geräte für Kinderspielplätze seien an Bord, erklärt die islamische Hilfsorganisation IHH in Istanbul, die den Transport unterstützt. Die israelische Führung ihrerseits sei von der "Gaza-Flotte" in ein "Meer der Dummheit" getrieben worden, kommentierte die Zeitung "Ha'aretz".

Und am frühen Montag, kurz vor dem Morgengrauen, nahm dann das Unglück seinen Lauf. Weil die Schiffe nicht beidrehten und die Aktivisten sich nicht ergaben, enterten Elitesoldaten das türkische Passagierschiff Marmara. 570 der mehr als 700 Aktivisten hielten sich dort auf. Aktivisten und die israelische Armee streiten über den Ablauf der Ereignisse. Die Armee sagt, die Soldaten seien mit Schusswaffen, Messern und Schlagstöcken angegriffen worden und hätten sich gegen einen Lynchmob verteidigt. Die Aktivisten verweisen auf die Bilder aus 30 Fernsehkameras an Bord des Schiffs. Die belegten, dass die Soldaten geschossen hätten, sobald sie an Bord gekommen seien. Dies ist aber nur der erste Teil des blutigen Zwischenfalls. Die nächste Konfrontation droht im Hafen von Aschdod, wohin die Armee die sechs aufgebrachten Schiffe geschleppt hat. Sollten die Aktivisten aus 40 Ländern nämlich nicht freiwillig einer Abschiebung zustimmen, werden sie inhaftiert. Botschaften und Konsulate, darunter auch die Vertretungen Deutschlands, dürften noch Tage im Einsatz sein. Die Bundesregierung reagierte bestürzt über die israelische Militäraktion. Israel droht aber auch ein längeres Nachspiel. Griechenland brach gemeinsame Manöver mit Israel ab.

Türkei warnt Israel vor "irreparablen Schäden"

Und die Beziehungen zwischen Israel und der Türkei sind in die bislang schwerste diplomatische Krise geraten. Die dramatischen Szenen auf dem Meer trieben in Istanbul sofort Hunderte von Demonstranten auf die Straßen. Sie versuchten, das israelische Generalkonsulat zu stürmen, die Polizei musste sie mit Wasserwerfern und Reizgas zurückschlagen. Gegen Mittag war die Menge auf mehrere Zehntausend Menschen angeschwollen, die sich mit palästinensischen Fahnen auf dem zentralen Taksim-Platz in der türkischen Metropole versammelten. "Nieder mit Israel", riefen sie. "Auge um Auge, Zahn um Zahn - Rache, Rache", wurde skandiert. Plakate lassen die "internationale Intifada" hochleben. Viele Frauen in islamischen Kopftüchern marschierten mit, aber auch Geschäftsleute in Anzügen. Am Rand der Demonstration beglückwünschten Autofahrer die Demonstranten.

Die Reaktionen blieben nicht auf die Straßen beschränkt. Der israelische Botschafter Gaby Levy wurde ins türkische Außenamt einbestellt. Das türkische Außenministerium warnte Israel vor "irreparablen Schäden" für die Beziehungen. Murat Mercan, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im türkischen Parlament, sprach von einem Akt der "Piraterie" durch Israel. Bei den UN in New York forderte die Türkei eine Sondersitzung des Sicherheitsrats. Der türkische stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arinc sagte, der israelische Angriff werde als "dunkler Fleck auf der Geschichte der Menschheit haften bleiben". Auch die mittelfristigen Konsequenzen der Krise für die Türkei, Israel und die gesamte Region werden weitreichend sein. "Die schwerste Krise überhaupt" zwischen Israel und der Türkei spiele sich ab, sagte der Ex-Außenminister Ilter Türkmen. Das historische Bündnis zwischen der muslimischen Republik Türkei und dem jüdischen Staat Israel könnte endgültig zerbrechen. Die Türkei könnte sich noch mehr als bisher Staaten wie Syrien und dem Iran annähern - ohne das bisherige Gegengewicht ihrer Partnerschaft mit Israel.

Trotz aller zwischenzeitlichen Spannungen fühlten sich Türken und Israelis lange Zeit durch ihre Gemeinsamkeiten verbunden: Beide Staaten sind enge Partner der USA, beide verfügen über sehr starke Streitkräfte, beide sind säkulare Demokratien nach westlichem Muster, und das in einer Weltgegend, in der dieses Modell nicht gerade weit verbreitet ist. Unter türkischer Vermittlung führte Israel sogar indirekte Friedensgespräche mit Syrien über die Zukunft der Golanhöhen. Doch spätestens seit dem israelischen Angriff auf die Gaza-Schiffe ist es vorbei mit diesen Gemeinsamkeiten.

Auch die arabischen Staaten verurteilten den israelischen Militäreinsatz als Verbrechen. Einige von ihnen befürchten sogar, dass ein neuer Krieg drohen könnte. Der libanesische Ministerpräsident Saad Hariri und Syriens Präsident Baschar al-Assad erklärten nach einem Treffen am Montag in Damaskus: "Israel verübt abscheuliche Verbrechen. Es missachtet die Mindeststandards der Menschlichkeit und des internationalen Rechts. Dadurch wächst die Gefahr eines Kriegs in Nahost, der auch die anderen Staaten der Region in Mitleidenschaft ziehen würde."

In einer Erklärung des Golfkooperationsrats wurde Israel des "Staatsterrorismus" bezichtigt. Die Arabische Liga wertete die Erstürmung der mit Hilfsgütern beladenen Flotte als Beweis dafür, dass Israel keinen Frieden will. "Wir sehen, dass es keinen Zweck hat, mit Israel über Frieden zu verhandeln", sagte der Generalsekretär der Arabischen Liga, Amre Mussa. Der jüdische Staat ignoriere das internationale Recht, "er denkt, dass er über dem Gesetz steht". Mussa berief für Dienstag eine Dringlichkeitssitzung der Liga in Kairo ein.