Der 31-jährige Amerikaner Shaun White hat gewaltige Sprünge geboten – und sein drittes Olympiagold gewonnen. Foto: AP

Ein begeistertes Publikum und ein überglücklicher Sieger – der Snowboard-Wettbewerb hat vieles geboten. Ganz nach dem Geschmack der IOC-Funktionäre, die Olympia auf trendy trimmen wollen.

Pyeongchang - Jede Sportstätte der Olympischen Spiele hat ihren DJ. Die meisten machen einen guten Job, nur hin und wieder vergreift sich einer im Ton. Dann läuft beim Frauen-Eishockey plötzlich Mickey Krause („Alles klar im BH“). Im Phoenix Snow Park sitzt an diesem Morgen ein Mann am Regler, der ein perfektes Gefühl für die Songauswahl hat. Direkt nach dem Finale in der Halfpipe legt er Guns N’Roses auf, aus den Lautsprechern knallt „Paradise City“. Was derzeit perfekt passt zu dem Skiressort in den Bergen über Pyeongchang. Denn hier oben begeistern Snowboarder und Freestyle-Skifahrer das Publikum. Hier oben schlägt das Herz des jungen, frischen, innovativen Olympia. Und hier oben läuft die größte Show der Winterspiele. Mit einem Superstar in der Hauptrolle.

Hätte man vor dem Finale der Snowboarder in der Halfpipe ein Drehbuch in Auftrag gegeben, es hätte exakt so enden müssen. Der letzte Starter im dritten und finalen Durchgang heißt Shaun White. Er steht im Starthaus und weiß, dass er den wichtigsten Lauf seiner Karriere vor sich hat. Weil er zwar 15 Goldmedaillen bei den X-Games und zwei Olympiasiege (2006 in Turin, 2010 in Vancouver) holte, aber vor vier Jahren in Sotschi auf Rang vier abgestürzt ist. Er hat noch eine Rechnung offen mit den Spielen. Und er will zeigen, dass er zurück ist. Auf dem Gipfel. Der Beste der Besten. Doch dafür muss er alles auspacken. Seine schwierigsten Tricks, seine höchsten Sprünge. Denn Shaun White liegt in diesem Moment nur auf Rang zwei.

Auch der Weltmeister ist aus dem Häuschen

Die Zuschauer im rappelvollen Stadion haben in der vergangenen Stunde jeden gelungen Sprung lautstark bejubelt, jede Drehung, jeden Salto. Und jeden Sturz mit einem Aufschrei begleitet. Die Stimmung erinnert an ein Skirennen in den Alpen. Die Fans sind fasziniert von der Flugshow, die ihnen geboten wird – vor allem von den drei weltbesten Snowboardern in der Halfpipe. Scotty James ist in Topform, er holt 92,00 Punkte und kommt doch nicht an seine beiden Konkurrenten heran. „Es war der beste Wettbewerb, den ich je erlebt habe“, sagt der Weltmeister aus Australien, „mit drei interessanten Persönlichkeiten auf dem Podium.“

Eine davon ist Ayumu Hirano. Bei Olympia 2014 gewann das 15-jährige Wunderkind Silber, seither hat sich der Japaner enorm weiterentwickelt. „In Sotschi bin ich einfach gesprungen“, erklärt er, „in den vier Jahren danach musste ich ständig darüber nachdenken, welche Tricks ich noch zeigen und wie ich mich verbessern kann. Das sagt schon alles. Das Niveau hat sich komplett verändert.“ Nicht zuletzt wegen Hirano selbst. Im zweiten Durchgang hat er sich mit einer spektakulären Leistung an die Spitze des Feldes gesetzt (95,25), unter anderem zeigte er zwei Sprünge nacheinander mit vierfacher Drehung. Extremer geht es nicht. Weil er befürchtet, dass dies trotzdem nicht zu Gold reichen wird, versucht er nun, im dritten Lauf noch einen draufzusetzen. Vergeblich. Und dann kommt Shaun White (31).

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Der US-Amerikaner, Werbeikone, Multimillionär und lebende Legende, springt technisch nicht ganz auf dem Superniveau des Japaners Hirano – normalerweise. Eigentlich müsste er nun mit Höhe punkten, absolut fehlerfrei bleiben, auf seine Ausstrahlung hoffen. Die Zuschauer halten den Atem an. White fährt in die Halfpipe an, nimmt Tempo auf – und startet mit zwei enorm hohen Sprüngen samt vierfacher Drehung. Das hat er noch nie geschafft, und auch sonst zeigt er keine Schwäche. Unten im Auslauf wirft er diesmal nicht wie nach dem ersten Durchgang (94,25) seinen schwarzen Helm ins Publikum, stattdessen heißt es: warten. Die Punktrichter entscheiden über Gold und Silber. Als das Ergebnis aufleuchtet, sinkt White in den Schnee, verdeckt mit den Händen das Gesicht, schreit und weint gleichzeitig. 97,75 Punkte – Olympiasieger! Er ist am Ziel seiner Träume.

Zwei Stunden später sitzt er in der Pressekonferenz. Immer noch voller Adrenalin. Aber auch wieder ganz PR-Agent in eigener Sache. „Mein Auftaktsprung im ersten Lauf war so hoch, da hätte ich den Leuten nebenan im Sessellift die Hand schütteln können“, sagt White und lacht, „ich bin überglücklich über diese Goldmedaille. Ich habe nach der Niederlage in Sotschi die Leidenschaft für meinen Sport wiedergefunden. Ich bin dankbar, dass ich nun die Gelegenheit hatte zu zeigen, wer ich wirklich bin.“ Das Gesicht eines Sports, der längst zu einem der positiven Markenzeichen von Olympia geworden ist. „Heute wurde Geschichte geschrieben“, sagt der fünftplatzierte Schweizer Patrick Burgener, „für mich ist es wunderbar, ein Teil davon zu sein.“

Die wilde Snowboard-Szene hat sich beruhigt

Seit 1998 in Nagano ist Snowboard olympisch. Es gab damals Widerstände aus der wilden, unabhängigen Szene, viele Sportler wollten nicht Teil dieser Kommerzveranstaltung sein. Mittlerweile sind solche Stimmen nur noch selten zu hören. Weil beide Seiten voneinander profitieren. „Ich bin schon auf vielen Podien gestanden“, sagt der Australier Scotty James, „aber Bronze für sein Land zu holen und sich die Fahne um die Schulter zu legen, das macht mich sentimental.“ Dazu kommt, dass sich eine Medaille auch für Snowboarder oder Freestyler gut versilbern lässt. Und das Internationale Olympische Komitee? Darf sich zu seiner Entscheidung beglückwünschen, die Trendsportarten unter sein Dach gelotst zu haben.

Das Publikum beim Snowboard und Freestyle ist jung, hip, trendy. Es läuft Rockmusik, im Rahmenprogramm treten Breakdancer auf. Dagegen wirken Wettbewerbe im Langlauf oder der nordischen Kombination traditionell. Positiv ausgedrückt. Allerdings ist es wie stets beim IOC: Der Drang zu immer noch mehr Vermarktung und Veranstaltungen ist unbändig. Den Organisatoren Olympischer Spiele verlangt dies enorm viel ab. Im Phoenix Snow Resort wurden nebeneinander eine Buckelpiste, eine Slope-Style-Anlage, Strecken für die Crosser, eine Schanzenanlage und eine Halfpipe aus dem Boden gestampft. Dazu etliche Tribünen aus Stahlrohr für Zuschauer und TV-Anstalten, VIP- und Medienzelte und, und, und. Was erneut zeigt: Die Olympischen Spiele stoßen an ihr Limit. Selbst in den Sportarten, die grenzenlose Freiheit versprechen.

Und am Ende ist dann auch noch der DJ überfordert. Bei der Siegerehrung für die Helden der Halfpipe bleibt die Musik aus. Dabei hätte es in diesem Moment nur ein passendes Lied gegeben für White, Hirano und James: „We are the Champions“.