Leicester Citys Edelfan: Mark Selby nach seinem WM-Sieg in Sheffield Foto: AP

Wenige Minuten nach einer der größten Sensationen der Fußball-Geschichte mit der Meisterschaft von Leicester City schreibt ein weiterer Sportler aus der Stadt Geschichte: Mark Selby.

Stuttgart - Es mag in der Geschichte der Stadt Leicester schon viele große Abende gegeben haben. Welche genau, entzieht sich unserer Kenntnis, vielleicht jene Nacht 1953 in einem Pub in Leicester zum Beispiel, als bei einem Gesangswettbewerb erstmals vor Publikum die Stimme von Arnold George Dorsey ertönte und eine Weltkarriere ihren Anfang nahm? Der in Leicester aufgewachsene Sänger, der sich fortan in Anlehnung an den Komponisten Engelbert Humperdinck nur noch Engelbert nannte, dürfte schließlich eine der bekanntesten Personen der Stadt in den englischen East Midlands sein.

Keine Zweifel dürfte es aber daran geben, dass der 2. Mai 2016 für immer als größter Tag der Sporthistorie der 300000-Einwohner-Stadt im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung bleiben wird.

Es war der Tag, als Leicester City unsterblich wurde. Und Mark Selby sich ein Denkmal setzte.

Wenige Minuten nach seinem Triumph bei der Snooker-WM am Montagabend im legendären Crucible Theatre zu Sheffield hatte Mark Selby eine Fahne. Und was für eine. Die Fahne seines Vereins Leichester City, jener Mannschaft, die rund 600 Sekunden vor seinem Sieg sensationell englischer Fußball-Meister geworden war.

„It’s a Foxes double!“

Selby kommt aus Leicester und ist glühender Anhänger der Mannschaft aus seiner Heimat. „It’s a Foxes double!“, titelt das Boulevardblatt „Sun“. „Ich weiß nicht, was mich mehr schockt – dass ich erneut Weltmeister bin oder Leicester es geschafft hat“, sagte Selby nach seinem 18:14-Erfolg über den Chinesen Ding Junhui, der ihm das Rekord-Preisgeld von 330 000 Pfund bescherte: „Gratulation an Claudio Ranieri und die Jungs. Es ist eine großartige Leistung, die Premier League zu gewinnen – wir sind nur eine kleine Stadt.“

Der Sieg von Selby ist keine Sensation. Der Titel für die „Foxes“ ist es, ohne Zweifel. Citys Meisterschaft ist eines dieser Märchen, wie sie der Sport von Zeit zu Zeit schreibt, ein Wunder, das nicht so recht zu erklären ist und vielleicht auch nicht erklärt werden muss, sondern man einfach genießen sollte als wunderbare Laune der Sport-Götter.

Der Folterknecht

Mark Selby gehört zum Establishment der Snooker-Szene, er ist eines der Schwergewichte der Branche, auch wenn er in der Öffentlichkeit vielleicht bei manchen Zuschauern nicht so wahr genommen wird, weil sich im Snooker grundsätzlich viel auf den schillernden Ronnie O’Sullivan kapriziert. Selby war schon einmal Weltmeister, 2014, als er eben jenen O’Sullivan bezwang, er war regelmäßig die Nummer eins der Weltrangliste, seit Februar 2015 steht er ununterbrochen an der Spitze. Im WM-Finale 2007 war er noch John Higgins unterlegen. Nach seinem ersten Titel 2014 sorgte er für große Emotionen, als er vom letzten Wunsch seines verstorbenen Vaters sprach: „Er starb an Krebs, als ich 16 war - zwei Monate, bevor ich Profi geworden bin. Seine letzten Worte waren: ‚Ich möchte, dass Du Weltmeister wirst’. Ich habe ihm gesagt, das werde ich eines Tages sein. Die Frage ist nur wann, nicht ob.“ Nun ist er es zweimal.

Selby wird auch „Jester von Leicester“ genannt, der Spaßvogel aus Leicester. An dem gewaltigen Snooker-Tisch aber ist Schluss mit lustig. Ronnie O’Sullivan nennt ihn nur den „Torturer“, den Folterknecht. Der 32-jährige Selby pflegt ein virtuoses Verteidigungsspiel, wie kein Zweiter in der Snooker-Welt beherrscht er den Catenaccio mit dem Queue, das so genannte „Safety-Spiel“. Es ist Teil des Snooker, virtuos auszusteigen und den Kontrahenten an den Tisch zu lassen. Das Spiel ist eine ständige Abwägung zwischen Chance und Risiko. Lieber sicher den Tisch verlassen als zuviel zu riskieren und dem Gegner im schlimmsten Fall einen perfekten Einstieg hinzulegen. Selby ist ein Meister dieser Disziplin.

2014 wurde Selby erstmals Weltmeister - und Leicester City stieg auf

Er kann den Rhythmus des Gegners zerstören, Stellungen auf dem Tisch hinterlassen, die dem Rivalen keine Optionen lassen. Außer Fehler zu machen. Er kann Gegner zermürben mit seinem Spiel. 2009 hat er sich bei der WM mal eine Abwehrschlacht gegen Stephen Maguire geliefert, die im längsten WM-Frame aller Zeiten mündete (74 Minuten). Selby war auch Teil jenes Frames, in dem 29 Minuten (!) lang keine Kugel gelocht wurde (2009 gegen Anthony Hamilton). Auch gegen Ding Junhui hat er diese Kunst oft gezeigt, aber Selby ist mehr als ein reiner Zerstörer. Er ist ein kompletter Spieler mit einer großartigen Balance zwischen Offensive und Defensive. Und ein verdienter Weltmeister.

Ding Junhui hatte sich im Finale ja nochmal rangekämpft nach seinem desaströsen Start am Sonntag, als er in der Best-of-35-Serie schnell mit 0:6 in Rückstand geraten war. Er verkürzte zwischendurch auf 10:11 und 14:16 am Montagabend, aber am Ende war Selby doch stärker als der Chinese, der in seiner Heimat für einen Boom gesorgt hat und dem WM-Finale mutmaßlich eine Rekord-Einschaltquote im zweistelligen Millionenbereich beschert hat. „Mark war einfach zu gut mich“, sagt Ding Junhui, der als erster Asiate Weltmeister hätte werden können.

So gehörte der Abend Mark Selby. Und Leicester City. Als Mark Selby 2014 Weltmeister wurde, feierte zeitgleich Leicester City den Aufstieg in die Premier League – welch kuriose Note der Sportgeschichte.