Das Silicon Valley entdeckt das Gesundheitswesen. Mit riesigen Datenmengen soll die Vorsorge verbessert werden. Google und Co. frohlocken, Big Data könne Leben retten. Eine Illusion.
Das Silicon Valley entdeckt das Gesundheitswesen. Mit riesigen Datenmengen soll die Vorsorge verbessert werden. Google und Co. frohlocken, Big Data könne Leben retten. Eine Illusion.
Stuttgart - Jahrzehntelang döste die Medizin in einem datentechnischen Dornröschenschlaf. Zwar wuchs der medizinische Fortschritt mit neuen Geräten und Medikamenten, doch an der Diagnostik und Auswertung von Daten änderte sich kaum etwas. Das könnte sich nun ändern. Mit dem Aufkommen mobiler Technologien, allen voran Wearables, Smartphones und Sensoren, stehen Ärzten mittlerweile massenhaft Daten zur Verfügung. Fitness-Tracker wie das Armband Jawbone Up zeichnen Schrittfrequenz, Schlafverhalten und Herzfrequenz auf.
Big Data war bislang ein Thema für Logistik oder Einzelhandel. Doch nun könnten Big-Data-Lösungen auch im Gesundheitswesen zum Einsatz kommen. Die Beratungsfirma McKinsey beziffert das Marktvolumen auf umgerechnet 240 bis 360 Milliarden Euro. Google hat kürzlich einige Millionen in das Start-up 23andMe investiert, das eine Datenbank für Genome erstellt. Die Forscher fahnden durch die systematische Auswertung unstrukturierter Daten nach der Formel für die Heilung von Krankheiten. In Googles Geheimlaboren suchen sie nach dem Algorithmus der Unsterblichkeit. Das klingt unheimlich verwegen, doch es passt zum heilsbringerischen Mantra des Silicon Valley. Google hat sogar eine smarte Kontaktlinse entwickelt, die den Blutzuckerspiegel misst. Im Juni hat der kalifornische Internetkonzern seine Plattform Google Fit vorgestellt, auf der Nutzer ihre Gesundheitsdaten zentral sammeln können. Über 100 000 Gesundheits-Applikationen gibt es bereits, allein Apple hat 40 000 Apps für sein Betriebssystem iOS entwickelt. Der jüngste Coup aus dem Hause Apple ist die Digitaluhr iWatch, mit der der Gesundheitscheck bald am Handgelenk erfolgen könnte.
Intelligente Waagen berechnen neben dem Gewicht den Körperfettanteil und Body-Mass-Index. Diese Daten können über WLAN oder eine App auf mobilen Geräten ausgelesen und über Statistiken analysiert werden. Und sie können an die Krankenkassen und Versicherungen weitergegeben werden. Hat der Nutzer in letzter Zeit zugenommen? Hat er zu viel gegessen und sich zu wenig bewegt? Dann könnte die Versicherung die Beiträge erhöhen. Solche Belohnungs- und Bestrafungssysteme gibt es bereits.
Die AOK Nordost bietet in Zusammenarbeit mit dem Unternehmen Dacadoo AG eine Gesundheits- und Fitnessplattform an. „Mit Hilfe der Dacadoo-Tracker-App werden Ihre Aktivitäten aufgezeichnet und automatisch auf diese Gesundheitsplattform übertragen“, heißt es auf der Website. Ein „health score“ ermittelt auf einer Skala von 1 bis 1000 den aktuellen Gesundheitszustand und das Fitnessniveau. Der Nutzer erhält eine kostenfreie Jahreslizenz im Wert von knapp 60 Euro im Austausch seiner Daten. Vermutlich zahlt er aber einen viel höheren Preis.
„Es kann sehr riskant sein, Informationen mit Dritten zu teilen“, sagt Ramon T. Llamas, Research Manager bei der International Data Corporation (IDC), im Gespräch mit unserer Zeitung. Die Informationsnutzung müsse transparent sein und dem Nutzer mitgeteilt werden. „Ich denke, der Fokus liegt gar nicht auf der Herzfrequenz oder den Schritten. Die Frage ist, wie Wearables sensible Informationen gewinnen können“, so Llamas. Zum Beispiel, ob der Nutzer an Diabetes leidet. Fakt ist: Wearables produzieren gigantische Datenmengen.
In Boston fand im Mai eine Konferenz zum Thema „Big Data in Healthcare“ statt. Alan Stein, der bei Hewlett-Packard für Gesundheitstechnologie verantwortlich zeichnet und an der Konferenz teilnahm, sagt auf Anfrage: „Big Data hilft, ganz bestimmte Fragen zu beantworten, zum Beispiel bei Patienten, die ein hohes Infektionsrisiko auf der Intensivstation tragen.“ Ärzte frohlocken bereits, Big Data könne Leben retten. Einige kühne Zukunftsforscher behaupten gar, dass der Roboter irgendwann nicht nur den Physiker, sondern auch den Arzt ersetzen kann.
Für die Krankenkassen ist der Datenfluss ein Segen. Die Versicherer können genau abschätzen, wer ein Risikopatient ist. Wearables speisen in Echtzeit Informationen in ihre Datenbanken ein. Doch die Kehrseite dieser Gesundheitsoptimierung ist der gläserne Patient. „Die Privatsphäre bleibt meine Hauptsorge“, sagt Llamas. Tech-Giganten wie Google oder Samsung erhalten gewissermaßen frei Haus ein umfangreiches Bewegungs- und Aktivitätenprofil ihrer Nutzer. Wer hält sich wo zu welcher Zeit auf? Wessen Puls schlägt wann besonders hoch? Die Geräte sind überdies anfällig für Manipulationen und Missbrauch.
IT und Medizin verschmelzen zu einer Disziplinierungsmaschine. Eine smarte Pille von Proteus zum Beispiel teilt dem Arzt durch Absenden einer Textnachricht mit, ob die Tabletten eingenommen werden. IBM hat ein elektronisches, temporäres Tattoo entwickelt, das wie ein Barcode unter die Haut gestochen wird und bei schwangeren Frauen den Fötus beobachtet. Die Daten über das heranwachsende Kind könnten dereinst an eine Cloud ausgelagert und vom Arzt in Ferndiagnose überprüft werden. Wissenschaftler tüfteln an Bluetooth-fähigen Zahnimplantaten, die unsere Essgewohnheiten überwachen. Was daran so verstörend ist, ist nicht die schiere Möglichkeit der Technik, sondern auch das Menschenbild, das dahinter steckt. Der Mensch ist nicht mehr mündig, sein eigenes Leben zu führen. Die Internetkonzerne beobachten uns nicht nur ständig, sondern bevormunden uns auch. „Schnall dich an! Iss weniger Fett! Bewege dich mehr! Ich sehe dich!“
Der Chef von Proteus Digital Health, Andrew Thompson, sagte gegenüber dem Fachmagazin „EP Vantage“: „Wir sind daran, Medizin zu einem digitalen Event zu machen, wo das, was Sie schlucken und wie Ihr Körper antwortet, sofort auf einem Handy auftaucht.“ Medizin als Event. Und Geschäft. Proteus Digital Health sammelte im Juni 120 Millionen Dollar Kapital.
Der IBM-Supercomputer Watson, bekannt geworden durch die US-Quizshow „Jeopardy!“, wird bereits in der Krebsforschung eingesetzt. Statt eines Medizinstudiums hat Watson in den vergangenen Monaten Berge von Texten in sich „hineingefressen“: zwei Millionen Seiten aus 42 Fachjournalen, 1,5 Millionen Patientenakten und 600 000 Forschungsberichte. Gleichwohl wird die künstliche Intelligenz wohl niemals die Expertise eines Mediziners erlangen. Algorithmen ersetzen keinen Arzt. Wie sehr die Technik danebenliegen kann, zeigt das Beispiel Google Flu Trends. Aus der Häufung von ein paar Dutzend Suchwörtern wie Fieber oder Husten wollte Google die Ausbreitung der Grippewelle vorhersagen. Die Prognosen lagen jedoch 50 Prozent über den tatsächlichen Grippefällen. Die Daten wurden durch Googles Änderungen seiner Suchalgorithmen verfälscht. Das lehrt: Big Data ist selbst infiziert von unsauberen Daten und Modellen – und kann allein keine Krankheiten heilen.