Wildschönau, Tag 2: Die Sonne brennt auf den Schatzberg, der Schnee glitzert. Nur mit dem Carving-Schwung hapert es noch. Foto: Gräfe

Vor 20 Jahren war noch alles anders: Bretter lang, Kopf ohne Helm, Unterwäsche aus Baumwolle.

Vor 20 Jahren war noch alles anders: Die Bretter lang, der Kopf ohne Helm, die Skiunterwäsche aus Baumwolle. Aber vielleicht verhält es sich mit dem Skifahren wie mit dem Radfahren – verlernt man es nie? Ein Selbstversuch aus der Wildschönau.

 

Tag 1: Breit und Kurz
Beim Skiverleih werde ich vermessen wie ein Kind beim Einschulungstest: Größe, Gewicht, Computernummer. Dabei bin ich doch nur eine Alpen-Wurst: Der Körper steckt in neuer Thermounterwäsche, im eigenen Dampfbad, so heiß ist mir. Zum Glück kaschiert das sanfte Blau des Funktionsanzugs die Malaise, schließlich will ich würdevoll den Einstieg in ein mir unbekanntes Zeitalter schaffen: die Epoche des Carving-Skis. Kurz sind sie und vorn breit. Vor 20 Jahren waren das Skier für Kinder. Meine Bretter waren auf Kante geschnitten und erstreckten sich auf zwei Meter. Ja, Länge galt noch etwas, als wir, bereit für die Zukunft, durch den Tiefschnee zur Abihütte hinunterwedelten. So ist das zumindest in meiner Erinnerung. Aber die Verleiherin ist ohnehin zu jung, um sie darüber aufzuklären. Stattdessen klärt sie mich auf: Es gebe jetzt Helme. Besonders für Leute wie mich. Den Rest höre ich schon nicht mehr.

Formal hat sich in der neuen Skiwelt gar nicht so viel verändert: Sessellift, Teller- und Schlepplift – alles noch da. Manches ist sogar bequem: Den Skipass in irgendwelche Automaten fummeln? Macht der Chip in meiner Jacke automatisch, pieps. Von der Gondel aus inspiziere ich die breiten, flachen Pisten. Früher nannte man das Idiotenhügel. Heute wohl auch. Die Wildschönau, ein abgeschiedenes Hochtal in Tirol, wirbt um die Typen, die sie befahren: Wiedereinsteiger wie mich.

Skilehrer Michael, ein braun gebrannter Mann mit dem verschmitzten Grinsen eines Alpenrebellen, weiß sofort Bescheid: Als ich noch wacklig die ersten Meter fahre, gleitet sein Blick über meine Beine. Die schmale Spur hinter mir weist weit in die Vergangenheit zurück. In der Gegenwart fahren sie breitfüßig, Westernhelden auf eisigem Terrain. Ingemar Stenmark, du alter Schwede, denke ich, du würdest mit mir weinen! Keiner wedelte enger und eleganter als er. Alles passé, wie die Berg- und die Talstellung, das ausladende Hoch und Tief in den Kurven, das Michael fast väterlich duldet – noch. Immerhin, der Vergleich zwischen Ski- und Radfahren scheint zu stimmen: Man verlernt es nie. Auch das Fallen nicht.

Abends gibt's zur Erbauung einen Krautinger. Auf den sind sie hier stolz. Nach drei Tagen habe ich fünfmal die Geschichte gehört, wie Kaiserin Maria Theresia den Wildschönauer Bauern das Monopol fürs Schnapsherstellen verlieh, weil sie so arm waren. 16 Bauern brauen ihn noch immer aus der Weißen Stoppelrübe. Der Krautinger ist für alles gut, selbst für die eine oder andere Schwangerschaft: ein Genuss beim Trinken, kräftiger Nachgeschmack. Darauf einen Marillenschnaps.

Tag 2: Wo sind die Schienen
Muskelkater! Ich hätte vorher Skigymnastik machen sollen. Aber wie, wenn man nicht mehr auf Bayern3 mit Rosi Mittermaier vor dem Fernseher die Zwei-Minuten-Abfahrt imitieren kann? Die Vorbereitung ist ohnehin auf den Hund gekommen. Keine Aufwärmszenen hinter den Liften, nicht einmal ein sanftes Armkreisen. Wie machen die das heute? Aber vielleicht muss man die Gunst der Stunde einfach nutzen: Glitzerndes Weiß unter der strahlenden Sonne, die Neuschnee-Jäger haben darauf gewartet. Auch wir. Wir sind die Ersten an der Bergstation und stäuben durch den Schnee. Die Schnellsten sind wir leider nicht. Schon beim ersten Stopp überholen uns 20 Schüler und walzen die Piste platt.

Also Zeit, das Carven zu üben. Die Begriffe, die Skilehrer Michael benutzt, klingen wie bei der Einführung eines Auto-Nachfolgemodells: kaum anders, dafür wird's komplizierter und teurer. Vor allem, erklärt Michael, fahre man beim Carven immer auf den Kanten – eine rasende Lok auf Schienen. Meine Lok röchelt und schnaubt, vor allem versteht sie die eigenen Kommandos nicht. Und wo sind die Schienen? Frustriert belausche ich im Sessellift das Gespräch dreier Snowboarder: "Als ich noch Ski gefahren bin ..." Vielleicht werde auch ich das wieder sagen.

Aber erst einmal ist es Zeit für den Einkehrschwung, die schönste Übung, zumindest das hat sich nicht verändert. Also hinein in die Melange aus Hüttengaudi, Löffelklappern, Kaiserschmarrn und Speckknödel. Die Decke darüber hat Robin gemacht, als er noch Tischler war. Heute ist er winters Skilehrer und im Sommer Almerer. Wenn man einmal draußen war, will man nicht wieder hinein in den Staub, sagt er. Sommerjob, Winterjob, Nebenjob –das ist normal in der Wildschönau. Es ist wie in New York mit den Taxifahrern: Alle tun es, wollen aber im Grunde Schauspieler oder Model sein. Hier sind sie eigentlich Reitlehrer, Autotuner, Masseur oder Käsemacher. Der soll die Milch seiner verschiedenen Kühe am Geschmack unterscheiden können, heißt es.

Tag3: Ich bin die Lok
Am dritten Tag geht die Welt unter, sie sind launisch, diese Alpen. Kaum etwas zu sehen im Nebel, Zapfen bilden sich unter dem Mundschutz. Das Wetter ist gut für den Kreislauf, und die Damen tragen eisige Bärte. Auf dem Weg zum Gipfel zieht mit den Gondeln mein Leben vorbei: Nummer 23, 32, 38, 56, 74. In Momenten wie diesen macht man das Beste aus der verbliebenen Zeit. Ich schließe den Carving-Frieden.

Die Pisten sind verwaist an diesem Morgen. "In den großen Skigebieten kommen sie von allen Seiten, da hörst du in deinem Rücken die Snowboarder krachen", sagt eine Lift-Bekanntschaft. "Da hatte ich schon Verfolgungswahn." Ich folge nur noch Michaels breiter Carving-Spur. Er glaubt offenbar tatsächlich, dass es mit mir noch etwas werden könnte. Das macht mir Mut. Wir üben weite Schwünge und enge, Kurve um Kurve, Kante an Kante, Schiene um Schiene. Es geht leichter, wenn man die Skier einfach laufen lässt. Vergessen die glorreichen Zeiten und die Erinnerungen von einst. Tschüss, Ingemar! Ich bin jetzt eine Lok.

Mit der Gondel schnell wieder hinauf zum nächsten Versuch. Die Kabine eine Mischung aus Eis und Dampf, aber das kann mich nicht stoppen. Neben mir empfängt ein Junge eine SMS – Riesenslalom, Zwischenergebnis: Alles ist noch möglich.

Wildschönau

Allgemeine Informationen
Die Wildschönau ist ein ruhiges Hochtal in den Kitzbüheler Alpen in Tirol und nur durch eine schmale Straße zu erreichen. Essen und Preis- Leistungs-Verhältnis sind meist sehr gut. Das Skigebiet mit seinen 70 Pistenkilometern ist besonders für Anfänger, Wiedereinsteiger und Familien geeignet. Die meisten Pisten gibt es am Schatzberg in Auffach. Mehr Infos unter www.wildschoenau.com.

Übernachten
Unterkünfte mit insgesamt 7000 Gästebetten gibt es problemlos in den Orten Oberau, Niederau, Thierbach und Auffach. Infos bei der Tourismusinformation in Oberau oder auf der Seite www.wildschoenau-hotels.net.

Was Sie tun und lassen sollten
Auf jeden Fall Krautinger trinken (Höflichkeit!) und Käse, Speck, Knödel und Wild der Region testen. Ins Tiroler Holzmuseum gehen – ein knarrendes Labyrinth aus Holzgeschichte und Skurrilitäten wie dem Büstenhalter aus Holz (www.holzmuseum.com).
Auf keinen Fall Krautinger trinken (Nachgeschmack!).

Weitere Tipps
Es lohnt sich, beim Kellerwirt in Oberau einzukehren. Das Gasthaus wird in der sechsten Generation betrieben und hat ein historisches Gewölbe (www.kellerwirt.com). Abenteuerlich ist die fünf Kilometer lange Rodelbahn von der Bergstation auf dem Schatzberg hinunter nach Thierbach.