Ein Foto, das zwar schon zwölf Jahre alt ist, aber die aktuelle Situation sehr gut trifft: Siri Hustvedt sitzt nachdenklich am Fenster ihres Arbeitszimmers in ihrem Haus in Brooklyn. Foto: imago//Katja Heinemann

Die US-amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt sieht die USA derzeit mehrfach gefährdet: Das Coronavirus und ein psychopathischer Präsident sorgten für eine doppelte Pathologie, sagt sie im Interview.

New York - Siri Hustvedt lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Paul Auster, in New York. Auch wenn draußen die Bäume blühten, sei die Stadt wie in einem Belagerungszustand, sagt die Autorin und blickt mit Sorge auf ein Land, das keine Netzwerke mehr aufrufen könne.

Ms. Hustvedt, wie verbringen Sie Ihre Tage in der Quarantäne?

Paul und ich arbeiten ohnehin beide zuhause, insofern hat sich für uns nicht viel geändert. Das einzige ist, dass wir unsere Tochter und unseren Schwiegersohn nicht gesehen haben, die nur einen Steinwurf entfernt, auf der anderen Seite des East River leben. Aber wenn ich sehe, was andere Leute durchmachen, geht es uns doch sehr gut.

Haben Sie Angst?

Ich mache mir nicht so sehr um mich selbst Sorgen, als darum, wie es weiter geht. Wie sieht die Welt nach dieser Krise aus, wie wird das Leben? Und ich erwarte mit Trauer die Nachrichten von den vielen Toten, die es in New York geben wird. Ich denke an die vielen Ärzte und Krankenschwestern und Pfleger, die in den kommenden Wochen sterben werden, weil sie sich nicht schützen können.

Die Lage hat sich in den vergangenen Tagen extrem zugespitzt. New York ist jetzt das Epizentrum der Pandemie.

Ja, die Stadt ist jetzt in einem Belagerungszustand. Sie bauen improvisierte Leichenhallen und bewahren die Toten in Kühlwaggons auf. Die Lage ist sehr ernst.

Es scheint so, als wolle Präsident Trump New York besonders bestrafen, in dem er der Stadt Hilfsleistungen verweigert. Warum hasst er New York so sehr?

Er weiß, dass man ihn in New York nicht mag, obwohl er hier aufgewachsen ist. Donald Trump ist nie von der New Yorker Elite akzeptiert worden, er wurde stets als vulgär angesehen. Das hat ihn sehr geprägt und auch seine anti-elitäre, anti-intellektuelle Einstellung, die ihn für seine Basis so attraktiv macht.

Haben Sie erwartet, dass sich die Situation so dramatisch zuspitzt?

Ich habe von Anfang an die Nachrichten aus China verfolgt und habe mich dann ein wenig mit der Virologie beschäftigt. Mir ist schnell klar geworden, dass Pandemien ein enormes Risiko in unserer heutigen Welt sind. Es gibt eine ernst zu nehmende wissenschaftliche Meinung, die besagt, dass die Abholzung unserer Wälder und der Klimawandel für Pandemien günstige Bedingungen geschaffen haben. Viren können von Spezies zu Spezies migrieren und wenn die Biodiversität schwindet, wird die Wahrscheinlichkeit höher, dass das passiert. Wir leben heute in einer Welt, die viel kleiner geworden ist. Unsere miteinander verwobenen Systeme sind extrem anfällig. Die Lektion dieses Virus ist, dass wir Teil dieser Systeme sind und nicht außerhalb stehen.

Trotzdem scheint Trump zu glauben, dass er das Problem lösen kann, indem er Grenzen schließt.

Das Virus ist ja eine sehr alte Metapher in der Politik und steht meist für das Andere, das Fremde, das droht uns zu überrollen, zu infiltrieren. Trump verwendet diese Metapher, seit er in der Politik ist. Jetzt versucht er irgendwie einen wirklichen Virus mit der Metapher zu verschmelzen. Doch leider halten sich Viren nicht gerne an Grenzen. Wir Menschen können ohne Viren gar nicht überleben. Wir sind symbiotische Kreaturen. Kurzum – die politische Metapher des Virus sollte nicht mit einem wirklichen Virus vermischt werden.

Sie haben viel gesprochen über Donald Trumps Angst vor der Auflösung der Körpergrenzen, vor Körperflüssigkeiten, vor dem Weiblichen. Ist diese Epidemie für ihn der GAU?

Ja, er hasst Bakterien. Es kann sein, dass ihn das vor dem Virus gerettet hat, er wäscht sich ja ständig die Hände und zwingt Leute dazu, sich die Hände zu waschen, bevor sie in das Oval Office treten. Er hat Angst davor kontaminiert zu werden. Dieses Virus, das wahre, nicht das metaphorische, bringt ihn völlig durcheinander.

Glauben Sie, dass vielleicht Trumps Unbeholfenheit in der Reaktion auf das Virus daher stammt, dass er die Metapher und die Realität nicht unterscheiden kann?

Es ist schwer zu wissen, was er tatsächlich denkt. Alles hat bei ihm einen performativen Aspekt. Für ihn zählt nur, wie er die Realität so manipulieren kann, dass sie seinen Anhängern gefällt. Wenn ihm das gelingt, dann fühlt er sich beruhigt. Fraglich bleibt, ob er tatsächlich in irgendeiner Form Angst vor diesem Virus hat, außer als potenzielles politisches Problem. Er begreift das Virus nur im Sinne seiner selbst. Er ist ein Psychopath. Das heißt wir haben in den USA jetzt eine doppelte Pathologie. Wir haben das Pathogen, das durchs Land zieht. Und wir haben die psychiatrische Behinderung des Präsidenten.

Man hat den Eindruck, als würde in dieser Krise das politische System in den USA völlig versagen.

Ja, die lokalen Politiker müssen irgendwie schauen, wie sie klar kommen und wir müssen uns auf sie verlassen. Manchmal gibt es Vorsteher in Landkreisen, die mit ihrem Gouverneur streiten, weil der Republikaner ist und nicht daran glaubt, dass das Virus gefährlich ist. Diese Krise legt alle Schwächen des amerikanischen Systems bloß, etwa das Gesundheitssystem, das vollkommen kaputt ist. Es gibt keine Gewerkschaften mehr, es gibt eine rasende soziale Ungleichheit. Es gibt in einer Situation wie dieser einfach kein Netzwerk mehr, dass aufgerufen werden kann, um der Herausforderung zu begegnen.

Kann die Krise langfristig eine Wende zum Besseren bedeuten?

Die Krise hat viele Probleme an die Oberfläche gespült. Nehmen wir Obdachlosigkeit. Obdachlose können nicht in Quarantäne gehen. Deshalb hat der Gouverneur von Kalifornien angefangen Unterkünfte für die Obdachlosen zu bauen. Es gibt nichts, was so sehr die Wunden einer Gesellschaft aufreißt wie eine Krise.

Siri Hustvedt, Leben und Werk

1955 wurde Siri Hustvedt in Northfield geboren, wo ihr Vater norwegische und amerikanische Geschichte lehrte. Sie ist die älteste von vier Töchtern und wuchs zweisprachig auf. 1982 heiratete sie den Schriftsteller Paul Auster. Das Ehepaar lebt in Brooklyn nahe dem Prospect Park; die gemeinsame Tochter Sophie ist Musikerin und Schauspielerin.

Romane wie „Die unsichtbare Frau“ (1993), „Der Sommer ohne Männer“ (2011) und „Was ich liebte“ (2003) machten Hustvedt bekannt. 2016 war sie Gast der Tübinger Poetik-Dozentur. In „Die zitternde Frau“ (2011) verarbeitete Siri Hustvedt eine eigene Nervenerkrankung; seither veröffentlicht sie auch neurowissenschaftliche Texte und unterrichtet in Narrativer Psychiatrie.