Der Historiker Edgar Wolfrum leitet die Forschungsstelle Antiziganismus Edgar Wolfrum leitet die Forschungsstelle Antiziganismus. Foto: dpa

Heidelberger Wissenschaftler untersuchen, warum und wie Sinti und Roma über Jahrhunderte hinweg ausgegrenzt wurden.

Stuttgart - Seit mehr als 600 Jahren leben Sinti und Roma in Mitteleuropa. Doch über ihre Geschichte ist nicht viel bekannt – dafür gibt es umso mehr Klischees über die Minderheit, die als sogenannte Zigeuner ausgegrenzt wurde. Bis auf einige Einzelstudien lägen kaum wissenschaftliche Arbeiten vor, sagt der Historiker Edgar Wolfrum, Leiter der noch jungen Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg. Im Sommer 2017 haben die Hochschule und das Land Baden-Württemberg das bundesweit erste Wissenschaftszentrum mit diesem Schwerpunkt eröffnet. Es solle ein Zeichen setzen gegen das Schweigen und für die Aufklärung, sagt Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne): „Damit wird das Land auch seiner historischen Verpflichtung gegenüber Sinti und Roma gerecht.“

Der Völkermord durch die Nationalsozialisten

Aufgabe der neuen Einrichtung ist es, Geschichte, Ursachen und Wirkung der jahrhundertelangen Ausgrenzung von Sinti und Roma in Deutschland und Europa zu erforschen. Seit dem späten 14. Jahrhundert ist ihre Anwesenheit in Ungarn belegt, seit dem frühen 15. Jahrhundert in Mitteleuropa – unter anderem durch eine Urkunde im Stadtarchiv von Hildesheim aus dem Jahr 1407. Anfangs stellten Kaiser, Landesherren und Städte den Neuankömmlingen Schutzbriefe aus, damit sie sich frei im Reich bewegen konnten. Wenige Jahrzehnte später wurden sie bei Reichstagen in Lindau 1496 und Freiburg 1498 für vogelfrei erklärt. Zunächst befassen sich die Wissenschaftler in Heidelberg mit dem 20. Jahrhundert, der Zeit der schwersten Verfolgung.

Die Nationalsozialisten ermordeten Hunderttausende Sinti und Roma in den Konzentrationslagern. Rassenforscher hatten die Sinti und Roma wie die Juden zu „Fremdrassigen“ erklärt, die aus der Volksgemeinschaft auszuschließen seien. „Der Völkermord an Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz, mit dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie an den Juden“, sagte der damalige Bundespräsident Roman Herzog 1997 bei der Eröffnung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg.

Die Bedeutung der Bürgerrechtsbewegung

Mit dem Ende des Nationalsozialismus war die Diskriminierung noch lange nicht zu Ende. In der Landfahrerzentrale in München hätten nach 1945 teilweise dieselben Personen gearbeitet, die die Sinti und Roma während der Nazizeit stigmatisiert hatten, sagt Wolfrum. Das belegten Akten in den Innenministerien der Länder, die mit der Zentrale in München einen intensiven Austausch pflegten. Die Überlebenden wurden – wie schon in den Jahrhunderten zuvor – oft als Asoziale und Kriminelle angesehen, wurden streng überwacht und blieben ausgegrenzt. Erst 1995 wurden sie als nationale Minderheit anerkannt – ein Erfolg der Bürgerrechtsbewegung um Romani Rose, heute Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Kinder von KZ-Überlebenden hatten 1979 den Verband Deutscher Sinti gegründet, der die Anerkennung des Völkermords an Sinti und Roma, die Beendigung der polizeilichen Sondererfassung, die Anerkennung als nationale Minderheit und die politische Beteiligung forderte.

Die Dokumente sind weit verstreut

Während aus dem 20. Jahrhundert viele Zeugnisse vorliegen – vor allem Polizeiakten –, ist es für frühere Jahrhunderte schwieriger, sagt Wolfrum. Um die weit verstreuten Dokumente zugänglich zu machen, soll in Heidelberg eine Sammlung aufgebaut werden. Dabei kooperiert die Forschungsstelle mit anderen Hochschulen, etwa Flensburg und Trier. Zudem wird interdisziplinär gearbeitet – das Thema betrifft Juristen, Politologen und Soziologen, spielt aber auch in Literatur und Musik eine große Rolle. Das Land finanziert mit 220 000 Euro pro Jahr zwei Stellen für Wissenschaftler sowie zwei Stipendien für Doktoranden. Weitere Stipendien werden über Drittmittel finanziert.