Graziano und Hedija aus Vaihingen tanzen. Foto: Annegret Jacobs

Wie lernen Menschen mit Behinderung einen Partner kennen? Die Lebenshilfe Stuttgart hat in ihrer Wohnanlage in Zuffenhausen eine Single-Party veranstaltet. Mehr als 80 Interessierte sind gekommen.

Vaihingen/Zuffenhausen - Die Singleparty in der Wohnanlage der Lebenshilfe in Zuffenhausen ist bereits seit einer Stunde im Gange, als sich die Wand mit den Liebesbriefen allmählich füllt. Lange Zeit hing Anwars Anfrage an Monika dort ziemlich alleine: „Ich hätte Lust, Dich näher kennen zu lernen.“ Dann fasst sich Stena ein Herz und schreibt an Maurizio: „Liber Morizio, du sies tol aus und tants gerne.“ Maurizio – „Morizio“ – ist das nicht entgangen, er hat geantwortet: „Liebe Stena, ich will mit Dir ins Kino gehen und Übernachtung machen.“ Eine Flirthelferin hat ihm beim Verfassen der Nachricht geholfen. Weil er nicht gut schreiben kann, hat Maurizio ihr seinen Text diktiert.

Tanzen, Spaß haben – vielleicht auch einen Partner finden

Es ist bereits die vierte Singleparty der Lebenshilfe Stuttgart für Menschen mit Behinderung. Aber es ist die erste große, zu der auch Bewohner anderer Einrichtungen gekommen sind: Mehr als 70 Singles aus der Region, darunter Menschen mit Behinderung von der Diakonie Stetten, von der Paulinenpflege in Winnenden und sogar aus einer Einrichtung in Schwäbisch Gmünd. Ihr Ziel: tanzen, Spaß haben – und vielleicht einen Partner finden.

Deswegen ist auch Hedija aus Vaihingen da. Zusammen mit dem Verein „Action, Kultur und mehr“ ist die 19-Jährige gekommen. Sie hat sich richtig chic gemacht. Trotzdem will sie die Jungs auf der Party nicht genauer in Augenschein nehmen. Schließlich hat sie bereits einen Freund, Mustafa. Den kennt Hedija aus ihrer Schule, der Karl-Schubert-Schule in Degerloch. Deswegen tanzt sie an diesem Abend vor allem mit Graziano – den kennt sie ebenfalls aus Vaihingen – aber nicht den Luftballontanz. Solche Tänze gibt es nur mit dem richtigen Freund, sagt Hedija. Und Mustafa hatte an diesem Abend keine Lust. „Männerabend mit den Kumpels“, sagt sie und läuft zu ihren Freundinnen Chiara und Julia hinüber, die den gesamten Tanzbereich neben den Musikboxen aufmischen. Zwei 17-jährige Teenager mit Trägershirts, die sich etwas Glitzer auf Gesicht und Schultern aufgetragen haben.

Langfristige Beziehungen gehen selten daraus hervor

Kerstin (23) und Simon (28) tanzen eng umschlungen über das Parkett. Gerade hat der DJ einen Stehblues aufgelegt. Aber auch die beiden sind kein Paar, das sich an diesem Abend gefunden hat. Bereits seit einem Jahr sind die beiden Gerlinger zusammen, haben sich bei einem Tanzkurs der Lebenshilfe in Leonberg kennen gelernt. Das passt zu den Beobachtungen, die Frank Schwab, Projektleiter der Lebenshilfe, gemacht hat. Langfristige Beziehungen beginnen auf den Singlepartys selten. „Oft ist es mit der Verliebtheit schon vorbei, wenn das Licht wieder angeht.“

Weitaus stabiler seien die Beziehungen zwischen Menschen mit Behinderungen, die sich am Arbeitsplatz, in den Werkstätten, anbahnen. Es sei zudem genauso wie bei Menschen ohne Behinderung: „Teenager wechseln ihren Partner öfter als ältere Menschen.“ Doch es ist auch nicht das vorrangige Ziel der Partys, Beziehungen mit langer Laufzeit den Weg zu bereiten, sagt Schwab. „Sie sollen einfach eine weitere Möglichkeit sein, dass Menschen mit Behinderung ausgehen und neue Leute kennen lernen.“

Projekt Singlebörse auf Eis

Zumal die Lebenshilfe das Projekt Singlebörse im Internet derzeit auf Eis gelegt hat. Vor zwei Jahren, als der Verein seine Konzeption über den Umgang mit Liebe, Beziehung und Sexualität verabschiedet hat, war diese ein großes Thema. Sie war eine Möglichkeit, für Menschen mit Behinderung – insofern sie Lesen und Schreiben können – weitgehend unabhängig Beziehung zu anderen aufzunehmen. Wegen datenschutzrechtlicher Bedenken setzt die Lebenshilfe vorerst lieber auf den direkten Weg des Kennenlernens.

Im Tanzsaal wummert die Musik. Die Scheinwerfer blinken blau und rot. Im Discoraum hängen Herzchen an den Wänden, im Bistro nebenan gibt es Butterbrezeln, Cola und die Liebesbriefewand. In einer Ecke im Tanzsaal steht Wolfgang Mezger. Er ist im Vorstand der Lebenshilfe Stuttgart, an diesem Abend aber eher in seiner Funktion als Vater von Markus da. Sein 30-jähriger Filius steht an der anderen Seite des Raumes, direkt vor den Boxen, wippt mit den Füßen im Takt und ist selig. „Sobald er das Wort Disco hört, lebt er auf“, sagt Mezger über seinen Sohn. In der Wohnanlage am Möhringer Probstsee haben die Betreuer Markus für den Abend gestylt, das Haar mit einer ordentlichen Portion Gel in Form gebracht. Ob er auch Ausschau nach einer festen Freundin, hält? Mezger vermag das nicht zu sagen. „Ein paar lose Freundinnen hat Markus bestimmt“, sagt er.

„Mein Sohn braucht das nicht“

Wolfgang Mezger ist froh, dass die Lebenshilfe sich dem Thema Sexualität und Beziehungen angenommen hat. „Das ist unter den Behinderten genauso wichtig wie unter Menschen ohne Behinderung.“ Dennoch: Es gab und gibt Vorbehalte, etwa unter manchen Eltern von Menschen mit Behinderung. „Mein Sohn braucht das nicht“, hätten manche gesagt und die Initiative der Lebenshilfe abgelehnt. Doch Mezger findet: „Für ein Leben in größtmöglicher Normalität gehört das dazu.“