Wirklichkeitsnahes Training: Der künstliche Patient hat alle Reaktionen bis hin zu tränenden Augen im Repertoire. Foto: Ines Rudel

Als eine der ersten Kliniken in Deutschland haben die Kreiskliniken Esslingen den operativen Notfall an modernen High-Fidelity-Patientensimulatoren trainiert. Dabei arbeiten alle Funktionsbereiche Hand in Hand

Nürtingen - Verkehrsunfall! Im Schockraum des Klinikums Nürtingen herrscht der Ausnahmezustand. Der Chirurg nimmt sich des offenen Unterschenkelbruchs des Unfallopfers an, der Internist prüft die Funktion der in Mitleidenschaft gezogenen Milz, der Anästhesist legt die Kanülen, die Ehefrau des Schwerverletzten hat einen Schreikrampf. „Und dann sollen wir in drei Minuten zum Erfolg kommen“, sagt Ulrich Römmele, der Ärztliche Direktor des zu den Esslinger Kreiskliniken zählenden Hauses.

Damit er und seine Kollegen auch in solchen extremen Krisensituationen schnell zum Erfolg kommen, trainieren die ärztlichen Teams der Kreiskliniken den Ernstfall an einem High-Fidelity-Patientensimulator. An dem künstlichen Patienten lassen sich sämtliche menschlichen Vitalreaktionen bis hin zum Tränenfluss durchspielen. So können die Atmungsorgane der lebensgroßen Puppe zuschwellen, die Lunge kann zusammenfallen oder der Bauch hart werden. Ein Krampfanfall gehört ebenso zum Repertoire des künstlichen Patienten wie der plötzliche Blutdruckabfall, der Verlust eines Beines oder heftig und plötzlich blutende Wunden.

Die wirklichkeitsnahe Simulation ist nach Einschätzung von Jörg Sagasser, dem Medizinische Direktor der Klinikgesellschaft, die Gewähr dafür, dass im Notfall nicht nur jeder Handgriff sitzt, sondern auch, dass die einzelnen Rädchen reibungslos ineinandergreifen. „Es ist eine wissenschaftlich erhärtete Erfahrung, dass es in kritischen Situationen nicht am medizinischen Fachwissen, sondern an weichen Faktoren fehlt. Dazu zählen eine problematische Kommunikation und Fehler im Teammanagement“, sagt Sagasser.

Im Ernstfall müssten die Teams aus verschiedenen Bereichen wie der Intensivstation, der Notaufnahme, dem Kreißsaal oder dem Herzkatheterlabor Hand in Hand zusammenarbeiten. „Da geht es zuerst einmal ganz einfach um die Frage, wer im Operationssaal den Hut aufhat“, sagt Römmele. Ganz zu schweigen von den anderen Unwägbarkeiten, die es in einer emotionalen Ausnahmesituation unter extremem Zeitdruck zu meistern gilt.

Die an der Puppe geübten Handgriffe und Abläufe werden mit einer Videokamera aufgezeichnet. Speziell geschulte Instruktoren besprechen die Sequenzen mit den Teams. An den Kreiskliniken fällt dieser Part Thomas Kieber zu, dem Oberarzt für Anästhesie und operative Intensivmedizin. „Wir spielen Notfälle im Echtbetrieb durch. Da ist es schon erhellend, wenn man im Film sieht, wie man selbst gehandelt hat“, sagt Kieber. Selbst wenn die Nachbesprechungen nach allen Regeln der Psychologie und der Erwachsenenpädagogik abliefen, seien auch schon Tränen geflossen.

Rund 70 000 Euro nimmt die Klinikgesellschaft für das Simulationsprogramm in die Hand. „Wir gehören zu den ersten Kliniken in Deutschland, die dieses Training anbieten“, sagt Norbert Nadler, der Leiter des Klinikums Nürtingen-Kirchheim. Das Programm, das in den nächsten beiden Jahren rund 400 Teilnehmer an den Standorten Ostfildern, Kirchheim und Nürtingen durchlaufen werden, hat den Worten Nadlers zufolge auch noch einen nicht zu unterschätzenden Zusatznutzen.

„Das Training erhöht nicht nur die Sicherheit für die Patienten. Es hilft uns auch bei der Gewinnung von Personal“, sagt der Klinikdirektor. Bei dem heftig umworbenen, weil gesuchten medizinischen Fachkräften hat das Haus die besten Karten, das mit einem guten Angebot an Aus- und Weiterbildung punkten kann. „Mit der halben Million Euro, die wir pro Jahr in die Fortbildung unserer Mitarbeiter stecken, stehen wir da gut da. Das spricht sich bei den Bewerbern rum“, sagt Nadler.