Viele Menschen leben auf Zeit ohne Luxus und Genuss, etwa in der Fastenzeit. Einige verzichten jedoch dauerhaft. Wir erklären, woher die Bewegung kommt, lassen eine Minimalistin erzählen, wie es sich mit weniger lebt, und haben den Selbstversuch gewagt.
Stuttgart - Es lebe die Genügsamkeit! Fahrrad statt Auto, Grünzeug statt Fleisch, Yoga statt Skizirkus, Teilzeit statt stressiger Vollzeitjob, das Regal lieber selbst bauen statt in ein teures Designmöbel zu investieren, in die nähere Umgebung zum Wandern statt mit dem Flugzeug auf und davon. Und hinweg mit all dem Zeugs, das man einmal meinte, sein Eigen nennen zu müssen. Zu lange schon liegt es bleischwer, unbeachtet und kaum benutzt in Schränken, Regalen, Kellern und auf Dachböden. Immer mächtiger drückt es aufs Gewissen. Schließlich ist längst bekannt: In Deutschland hinterlässt jeder und jede im Schnitt einen ökologischen Fußabdruck von 5,1 Hektar Fläche. Würde jeder Mensch auf der Welt so leben, bräuchte es 2,8 Erden, um den Bedarf an Ressourcen zu decken.
Freiwilliger Verzicht auf Konsum
Auch deswegen überdenken immer mehr Menschen ihre Lebensweise und ihr Konsumverhalten. Prominente machen es vor: Die US-amerikanische Schauspielerin Natalie Portman stieg von einer vegetarischen auf eine vegane Ernährung um – unterbrochen in ihrer Schwangerschaft –, nachdem sie Jonathan Safran Foers „Tiere essen“ gelesen hatte. Auch ihre Kollegen Brad Pitt, Leonardo DiCaprio und neuerdings auch Ex-Präsident Bill Clinton üben sich im Verzicht auf tierische Kost oder zumindest auf Fleisch und Wurst. Nicht allein aus Respekt vor dem Leben, sondern auch, weil sie ein Zeichen gegen Massentierhaltung und den enormen Flächenverbrauch für den Futteranbau setzen möchten.
„Degrowth“ heißt das Schlagwort für die Abkehr vom in Industrieländern gültigen Wachstums-Prinzip mit seiner Fixierung auf den fortwährenden Konsum neuer Produkte. Ökonomen wie der Deutsche Niko Paech oder der Brite Tim Jackson setzen sich im Schulterschluss mit Soziologen, Klimaforschern und anderen Experten für einen grundlegenden Paradigmenwechsel in Wirtschaft und Gesellschaft ein. Sie appellieren an die Politik, diesen Umbauprozess hin zu einer entrümpelten, entschleunigten und entkommerzialisierten Welt aktiv zu gestalten, um nicht erst durch Finanzkrisen sowie Kriege um Rohstoffe, billige Arbeitskräfte und Anbauflächen zum Umsteuern genötigt zu werden.
„Simplify your life“ – Vereinfache dein Leben
Den Einzelnen erreicht der Appell zum gedrosselten Verbrauch als Lifestyle-Trend. Unter den Stichworten Einfaches Leben, Freiwillige Einfachheit oder Downshifting (Herunterschalten, Kürzertreten) werden seit 2001 altbekannte Werte wie Genügsamkeit, Achtsamkeit und Minimalismus propagiert. Zum Beispiel durch den Bestseller des deutschen Theologen und Publizisten Werner Tiki Küstenmacher „Simplify your life“ (Vereinfache dein Leben). Der Ratgeber liegt mittlerweile in der 15. Auflage vor und wird von so vielen publizistischen Nebenprodukten wie „Das kleine simplify Gemüsebuch“ oder „Das kleine simplify Hundebuch“ ergänzt, dass die Idee des Weniger regelrecht ad absurdum geführt wird. Auch Blogs rund ums einfache Leben füttern die Reduzierungsbewegung ständig mit neuer Nahrung. Der gemeinsame Nenner der darin verkündeten Botschaften: Jeder Mensch soll nur so viel besitzen, wie er für sein Glück und Leben tatsächlich benötigt. Und das ist in unseren Breiten in der Regel deutlich weniger als der Durchschnitt so hat.
All die Sachbuchautoren, Blogger und sogar Liedtexter beteuern dabei, dass es die reine Lust sei, weniger zu besitzen, zu kaufen und zu verbrauchen. Sie versprechen nicht weniger als mehr Zeit fürs Wesentliche und ein Zuwachs an persönlicher Freiheit und Glück. Das deckt sich durchaus mit Aussagen des Wachstumskritikers Paech. In seinem Essay „Eine Ökonomie jenseits des Wachstums“ heißt es zu den Themen Entrümpeln und Entschleunigen: „Wer unter einer Lawine von Selbstverwirklichungsangeboten zu ersticken droht, die zudem ständig zeitraubend verglichen, bewertet und ausgewählt werden müssen, verzichtet nicht, sondern befreit sich von Überflüssigem.“ Vom Haben zum Sein: Der Philosoph und Sozialpsychologe Erich Fromm widmete sich diesem Thema schon in den 1970er Jahren.
Verzicht und Askese
Jahrhunderte lang war die zumeist religiös motivierte Askese an mühevolle Entsagung gekoppelt und oft nur durch Selbstgeißelung zu erlangen. Um dem Göttlichen schon im Irdischen nah zu sein, galt es, den Verlockungen des ohnehin vergänglichen Erdenlebens zu widerstehen. Und jetzt soll die Abkehr vom Zuviel plötzlich mit Lust und persönlichem Gewinn verbunden sein und dabei helfen, das vermaledeite Diesseits zu retten?
Noch immer müssen sich die allermeisten Menschen auf der Welt mit dem Notwendigsten begnügen, weil sie sich Überfluss gar nicht leisten können. Aus Überzeugung kürzer zu treten setzt voraus, auch mit weniger ausreichend versorgt zu sein und eine Wahl zu haben. Die kann dann auch wie bei Josef Lange ausfallen, der sich kurz und knapp Jo nennt: lieber wenige Produkte von guter Qualität, davon aber nicht mehr als man tatsächlich braucht. „Ich habe das schon immer so gehandhabt“, sagt der 72-Jährige, der in jungen Jahren als Koch zur See gefahren ist und seinen gesamten Besitz in einen Koffer packen konnte. „Ich wollte noch nie für Statussymbole arbeiten, weder für ein Auto, noch für teure Uhren.
Verzicht und Achtsamkeit
Trendsetter und Konsumverhalten
Heute gehöre ich mit dieser Einstellung zu den Trendsettern, aus Zufall. Und weil ich schon als Kind zu faul war, mich mit Überflüssigem abzugeben.“ Schließlich kommt bei ihm jedes Paar Schuhe, das nicht getragen wird, ordentlich geputzt auf einen Spanner.
Eigentum verpflichtet! Wenn es doch so wäre: Oft genug stößt Jo die Nachlässigkeit seiner Mitmenschen beim Umgang mit ihrem vielerlei Hab und Gut bitter auf. Schuhe mit abgetretenen Sohlen, Billigware minderer Qualität – viel zu schnell gekauft und oft genug nicht einmal eine Saison im Einsatz. „Ich weiß nicht: Schätzt sich der Mensch heute selbst nicht mehr wert?“ Von einer einfachen, aber stets gut und „ohne Tüttelkram“ gekleideten Frau hat Jo den Spruch übernommen: „Ich verdiene viel zu wenig Geld, um mir billige Klamotten zu kaufen.“ Was nun nicht bedeutet, dass der ehemals selbstständige Koch besonders ausgabefreudig wäre. „Ich kaufe immer erst etwas Neues, wenn das Alte ausrangiert werden muss.“ Und oft behält er beispielsweise ein Jackett seiner Wahl so lang im Auge, bis es reduziert wird. „Manchmal klappt’s, manchmal ist es weg.“
Trendwort Achtsamkeit
Dass es völlig ausreichend ist, einen guten Anzug zu besitzen (zum Wechseln dürfen es auch zwei sein), bekam Jo in einem Interview von keinem geringeren als dem italienischen Modemacher Giorgio Armani bestätigt. Auch beim Wohnen und Einrichten gilt bei ihm „weniger ist mehr“. Am Rande geht es Jo bei seiner Beschränkung aufs Wesentliche schon auch um Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung. Immerhin gibt er sich als Tesla-Fan zu erkennen. „So ein elektrisch betriebener Sportwagen, das würde mich schon reizen.“ Vor allem aber geht es Jo darum, für andere ein angenehmes Gegenüber zu sein – und um Achtsamkeit.
Achtsamkeit! Offenbar hat Jo ganz unbewusst wieder einmal einen Trend vorweggenommen. Soeben hat Matthias Horx, Leiter des Zukunftsinstituts mit Sitz in Frankfurt und Wien, dieses Wort zum Schlüsselbegriff der kommenden Jahre gekürt. In seinem Vorwort zum „Zukunftsreport 2016“ prognostiziert Horx, dass Achtsamkeit nicht nur dabei sei, den Begriff Wellness abzulösen, sondern auch das „derzeitige Lieblingsnebelwort“ Nachhaltigkeit. Er schreibt: „Anders als Wellness und Nachhaltigkeit ist Achtsamkeit nicht so einfach korrumpierbar. Achtsamkeit ist Handlung – ein innerer Prozess mit vielen Konsequenzen und Bedingungen.“ Achtsamkeit heiße: In einer überfüllten, überreizten, überkomplexen Welt lernen zu müssen, sich auf neue Weise auf sich selbst zu besinnen. Es gehe um Selbst-Wirksamkeit, und die sei – logischerweise – verbunden mit der Wiederentdeckung des Selbst.
Weniger ist mehr
Nun lässt sich darüber spotten, dass die Ausrufung eines solchen Trends trotz des achtsamen Inhalts die gleichen Mechanismen beflügelt, die in einer Konsumgesellschaft immer gelten: Der Begriff Achtsamkeit wird zum Werbebegriff und für so ziemlich alles in Anspruch genommen werden, was als mehr oder minder überflüssiges Konsumgut an den Mann oder die Frau gebracht werden soll. Schon buhlen Haarpflegeprodukte mit dem Markennamen „Less is more“ (Weniger ist mehr) um die Aufmerksamkeit derer, die sich geschworen haben, vor dem Zuviel Abstand zu nehmen. Und so dürften sich die zuvor leer geräumten Stauräume nach und nach wieder mit allerlei Dingen füllen, an die das Fähnchen Achtsamkeit geklebt wurde.
Genauso gut möglich ist allerdings, dass tatsächlich neue Formen des Habens und Seins geschaffen werden, weil es in satten Gesellschaften immer mehr Menschen gibt, die sich vor dem Geldausgeben zweimal überlegen, was sie tatsächlich brauchen und welche Auswirkung ihr Konsumverhalten auf Natur und Mensch hat. Vorboten sind Firmen, die mehr in Qualität als in Quantität investieren, aber auch Sharing-Konzepte, Leih- und Tauschbörsen. Auch mit ihnen wollen die Betreiber letztlich Kasse machen. Wenn aber das Nachwachsen der Rohstoffe wieder mit dem Verbrauch Schritt halten würde, wäre das kein kleiner Anfang, sondern ein riesiger Durchbruch.