Schöne neue Arbeitswelt: Die Facebook-Zentrale in Menlo Park. Foto: DPA

Das Silicon Valley bleibt die Hightech-Kapitale der Welt. Nirgendwo gehen kreative Geister härter ans Werk. Aber auch in Kalifornien zeigen sich die Schattenseiten der digitalen Revolution.

San Francisco/Palo Alto - Peter Koch steht vor der großen Glasfront seines Büros im 17. Stock und lacht. Stolz deutet der hochgewachsene Mann im gestreiften Hemd und Jeans auf die etablierten Hightech-Unternehmen in unmittelbarer Nachbarschaft: Oracle, Play Station, Gilead. Doch schon die Büroadresse – 950 Tower Lane in Foster City – und der Büroturm mit viel verspiegeltem Glas verraten: Der 47-jährige Unternehmer ist auf der Startup-Erfolgsleiter im Silicon Valley schon ein beträchtliches Stück nach oben geklettert. „Eigentlich wollte ich in die Automobilindustrie“, erzählt Koch, der auf der Insel Reichenau am Bodensee auf die Welt kam und in Mannheim Wirtschaftsingenieur studiert hat.

2009 gab er seinen sicheren Job bei dem US-Telekomriesen Cisco auf und wurde Unternehmer, zuständig für die Produktentwicklung in dem von ihm mitgegründeten Startup Balluun Inc.: 25 junge Software-Entwickler und Informatiker betreiben in der Internet-Wolke einen Marktplatz, der Hersteller und Einkäufer von Modeprodukten, Spielwaren und anderem mehr zusammenbringt. Die digitale Revolution macht auch vor dem Messegeschäft nicht halt. „Der Trend bei den Shows geht eindeutig Richtung online“, berichtet Koch. Gerade erst hat seine Firma mit der Messe Stuttgart eine Partnerschaft ausgehandelt. Balluun soll den Stuttgartern zunächst bei deren US-Aktivitäten helfen, dann aber sei auch ein deutscher Marktauftritt geplant.

Viele Milliarden im Spiel

Kochs Erfolgsgeschichte ist typisch für das Silicon Valley, San Francisco und das Land links und rechts der San Francisco Bay. Auch für viele der 40 000 Deutschen, die hier leben. Flächenmäßig kaum größer als Berlin ist dieser Flecken Kaliforniens das Zentrum der globalen Hightech-Industrie und der Innovation. Keine andere Gegend weltweit zieht so viele kreative Forscher, Unternehmer und Investoren aus aller Welt an. Alle großen Internetfirmen wie Apple, Google, Facebook und Co. sind da. Dazu die Forscher- und Designteams aus Europa und Asien von Mercedes bis Samsung. Und Tausende kleinerer Startups, die sich irgendwo einen Schreibtisch mit Stromanschluss und WLAN mieten und fieberhaft daran arbeiten, das nächste Facebook zu erfinden. 400 000 Beschäftigte in der IT-Welt – Software-Entwickler, Informatiker oder Webdesigner basteln an der Zukunft der Welt.

In der boomenden Gründerszene ist auch viel Geld im Spiel. Der Gesamtwert der Technologiefirmen beläuft sich laut Schätzungen auf umgerechnet mehr als 2,6 Billionen Euro. Und Geld zieht noch mehr Geld an: Wagniskapitalgeber pumpten 2014 44 Milliarden Euro in Startups – 60 Prozent mehr als 2013. Rund ein Drittel des gesamten Investmentkapitals in Amerika stammt aus der Bucht von San Francisco. Und alle Investoren lauern auf das nächste große Ding. „Anders als in Deutschland ist es hier kein Problem an Geld heranzukommen“, erzählt Koch, der für seine Firma in der Anfangsphase rund elf Millionen Euro einsammelte. Und noch etwas ist anders als in Deutschland: Mag die Geschäftsidee auch noch so abwegig erscheinen, hier wird alles ausprobiert. Auch das Scheitern gehört dazu. „Im vergangenen Jahr beklagte ein Bankenvertreter bei einem Vortrag öffentlich, dass er 2013 weniger gescheiterte Projekte aufweisen konnte als im Vorjahr“, erzählt der deutsche Generalkonsul Stefan Schlüter eine bezeichnende Anekdote.

Alles auf den Kopf stellen

So viel unternehmerischer Wagemut ist der Hauptgrund dafür, dass Amerika Deutschland und ganz Europa in der Internetwirtschaft abgehängt hat. Und dass die stolze deutsche Industrie insgesamt, wie die Bundeskanzlerin Angela Merkel seit Jahren warnt, in Gefahr steht von der amerikanischen Technologie-Industrie überrundet zu werden. Der vieldeutig-revolutionäre Slogan im Silicon Valley lautet „disruptive innovation“, auf Deutsch so viel wie „Störinnovation“: Neue Märkte werden geschaffen, indem mit neuer Technik und neuen Geschäftsmodellen Altbewährtes auf den Kopf gestellt wird. Viele Experten vergleichen die Kreativität im Silicon Valley mit den großen Erfindern im 19. Jahrhundert.

Ein gutes Beispiel für die zerrüttende Wirkung dieser neuen Startup-Firmen liefert Airbnb, die eine Gruppe deutscher und amerikanischer Journalisten auf Einladung der Robert Bosch Stiftung dieser Tage besuchte. Airbnb ist ein sieben Jahre alter Online-Marktplatz zur Vermietung von Privatunterkünften. Mit ihrem fabelhaften Marktwert von 24 Milliarden Euro zählt die Firma zum erlauchten Kreis der 74 Einhörner (unicorns) im Silicon Valley, die mehr als eine Milliarde Dollar (900 Millionen Euro) wert sind. Die Gründer von Airbnb fanden einst keine Hotelzimmer in San Francisco. Da stellten sie Fotos von Privatwohnungen online. Daraus entstand ein Unternehmen mit 2200 Mitarbeitern, das heute in 190 Ländern vertreten ist – „nur in Nordkorea nicht“ wie stolz verkündet wird. Sein Hauptquartier hat Airbnb in einem Ex-Einkaufszentrum in San Francisco. Auf mehreren Etagen sitzen Mitzwanziger in Jeans und Turnschuhen in loftähnlichen Großraumbüros an Rolltischen vor Computerbildschirmen oder mit dem Laptop auf Sofas oder Sitzkissen. Viele haben auch ihre Hunde dabei. Salat und Getränke sind für Mitarbeiter gratis. Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen ganz offensichtlich.

Beduinenzelt bei Airbnb

Laut Firmenangaben fanden 17 Millionen Reisende über Airbnb in diesem Sommer eine Unterkunft – sogar auf Booten oder in Baumhäusern. Die perfekte Firmenpräsentation liefert Sprecher Christopher Nulty in einem nachgeahmten Beduinenzelt mit Bambusstühlen auf tiefrotem Teppich ab. Mit „mehr als 50 Prozent“ sei Europa der größte Markt für Airbnb, sagt er. Zur heiklen Frage, wer bei der Vermittlung von Privatunterkünften steuerpflichtig ist, gibt es aber nur ausweichende Antworten. Ebenso wie in puncto Konkurrenz zum etablierten Hotelgewerbe, wo viele Beschäftigte von der Arbeitslosigkeit bedroht wären, sollte Airbnb und ähnliche Unternehmen ihren Siegeszug fortsetzen.

In dem von Stararchitekt Frank Gehry entworfenen funkelnagelneuen Firmengebäude von Facebook in Menlo Park, südlich von San Francisco wiederholt sich ein ähnliches Schauspiel. Wieder eine freundliche, aber aalglatte Produktpräsentation: „Wir wollen Menschen miteinander verbinden durch Geschichten, die ihnen wichtig sind“, sagt Adam Mosseri, Direktor von Newsfeed bei Facebook. Ansonsten gibt es wenig Konkretes beim Thema Hassrede oder zum Datenschutz. Dabei steht in der lichtdurchfluteten großen Eingangshalle ein Modell des Firmengebäudes mit zwei Slogans in knallrot: „Bewege Dich schnell und mach Dinge kaputt“ (Move fast and break things) und „Was würdest Du tun, wenn Du keine Angst hättest“ (What would you do if you weren’t afraid?“). Auch wenn Tina Kulow, die deutschstämmige Facebook-Kommunikationschefin für Nordeuropa, die radikalen Sätze am Ende abzuschwächen sucht. Sie taugen durchaus als Leitsätze für die im Silicon Valley verbreitete Denke. Eine Art Techno-Evangelium, wonach die Welt durch Technik besser wird, und Politik und staatliche Ordnung dabei nur im Weg sind. Dazu passt, dass das Valley mit all den Sinnsprüchen übers Quer- und Positivdenken, aber auch mit der vorgegaukelten Transparenz, die in Wahrheit der Versuch zur vollständigen Kontrolle der Botschaft ist, mitunter wie eine große Sekte wirkt.

Und doch kann man sich dem umwälzenden Einfluss des Silicon Valley nicht einfach per Beschluss entziehen. „Die digitale Revolution ist vergleichbar mit der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg“, sagt der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht. Diese historische Entwicklung sei unvermeidlich. „Das heißt nicht, dass alles gut daran ist.“ Der energiegeladene Kettenraucher lehrt seit 26 Jahren an der Elite-Universität Stanford in Palo Alto – dem Epizentrum des Silicon Valley. Dabei ist der unternehmerische Geist in dem früheren Obstgarten älter als die elektronische Innovation: Auf diesem farbenfrohen weitläufigen Campus voller prächtiger Nadelbäume und Palmen ermunterte der Elektroingenieur-Professor Fred Terman seine Studenten Bill Hewlett und Dave Packard schon in den 30er Jahren dazu, aus ihrer Garage an der 367 Addison Avenue die eigene Firma – Hewlett-Packard – zu gründen.

Heute kann man in Stanford ein Startup-Seminar belegen. Doch das braucht es gar nicht. Gumbrecht berichtet von einem seiner Studenten, der mit 17 Jahren eine Software entwickelte, die zehn Sport-Programme gleichzeitig verfolgt und sich in spielentscheidenden Momenten zuschaltet. Eine Firma kaufte die App für einige Millionen. „Das Geld war ihm gar nicht so wichtig“, erzählt der Professor. Vor allem sei der junge Mann stolz gewesen auf seine Problemlösung und die Bestätigung, die er durch den Verkauf der App erhielt.

Riesige Einkommenskluft

Doch der rasante Boom der IT-Industrie ruft jede Menge Kritiker auf den Plan. Vor kurzem erst provozierte der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk mit seiner These, das Silicon Valley sei ein Arm des US-Verteidigungsministeriums zur digitalen Kolonialisierung Europas und der Welt. Doch verkennt der streitbare Geist, dass Facebook, Google und Co. nicht vom Pentagon gegründet wurden, sondern von Unternehmern.

Weit schwerer als der zeitgeistig-antiamerikanische Einwurf wiegt aber die Kritik in den USA selbst. Sozialpolitiker beklagen die riesige Einkommenskluft zwischen den Internet-Millionären, den Softwareentwicklern – durchschnittlicher Jahresverdienst 140 000 Euro – und den Alteinwohnern aus der Mittelschicht, die sich ein Leben in San Francisco nicht mehr leisten können. Gleichzeitig hat Kalifornien mit 23 Prozent die höchste Armutsrate in den USA. Für San Francisco, wo ein Ein-Zimmer-Apartment im Schnitt 3200 Euro Miete im Monat verschlingt, wurde eigens der Begriff der „Hypergentrifizierung“ geprägt. Ausgerechnet dort, von wo aus einst die Hippies gegen das Establishment loszogen. Doch die Gegenbewegung, die 2014 Schlagzeilen machte mit Protesten gegen die sogenannten Google-Busse, mit denen die Ingenieure aus der Stadt zu ihren Arbeitsplätzen im Valley gelangen, hat noch nicht die Dimension der Bewegung „Occupy Wall Street“ nach der Finanzkrise erreicht. Wird sie es jemals? Lois Kazakoff, stellvertretende Chefin der Meinungsseiten beim „San Francisco Chronicle“, macht eine „tiefsitzende Kultur der Freiheitsliebe“ in Kalifornien für die Vernachlässigung des Gemeinwohls verantwortlich. Gleichzeitig befürchten Kritiker wie Steven Hill, der gerade ein neues Buch über die falschen Versprechen der Ökonomie des Teilens veröffentlicht hat, eine weitere Aushöhlung der Arbeitnehmerrechte.

Doch auch wenn Experten damit rechnen, dass nach dem Boom auch die IT-Industrie wieder auf den Boden zurückkehrt, einen Crash wie um die Jahrtausendwende befürchten die wenigsten. Daher wird der Einfluss von Unternehmern, Technikern und Geldleuten aus dem Silicon Valley auf alle Bereiche der globalen Wirtschaft bleiben. „Jede Firma muss zu einem digitalen Geschäft werden oder sterben“, heißt eine Redensart an Kaliforniens Pazifikküste. Auf diese Herausforderung müssen Deutschland und Europa eine Antwort finden.