Der SPD-Parteichef Sigmar Gabriel spricht im Interview mit den Stuttgarter Nachrichten über Kapital, Koalitionen, Katastrophen und warum die Genossen der CDU-Ministerin von der Leyen folgen.
Stuttgart/Berlin – - Herr Gabriel, welches Leitmotiv sollte eine Große Koalition haben?
Eine Koalition aus CDU/CSU und SPD, wenn sie zustande kommt, muss Deutschland wetterfest machen, denn die Zeiten können stürmisch werden. Die Anforderungen an unser Land und Europa werden größer. Diese in den Blick zu nehmen und für konkrete Verbesserungen der Lebensverhältnisse der Menschen zu sorgen – das muss eine neue Regierung leisten.
Und in einer solchen Regierung wäre die SPD das Korrektiv?
Wenn man einen Koalitionsvertrag einmal geschlossen hat, sollte man sich danach nicht mehr nur als Korrektiv verstehen, sondern als gleichberechtigter Gestalter der Politik. In den Koalitionsverhandlungen muss gerungen werden, und die SPD muss dann prüfen, ob sie sich ausreichend durchgesetzt hat. Aber wenn dann am Ende beide Seiten gute Lösungen für die Menschen in Deutschland gefunden haben, muss man danach gemeinsam gut regieren.
Sie wollen keine alte CDU-Politik korrigieren?
Natürlich will die SPD Fehlentwicklungen der letzten Regierung von Union und FDP korrigieren. Deshalb verhandeln wir ja über einen Koalitionsvertrag über einen Neustart der völlig missglückten Energiewende oder über die dringend notwendigen Verbesserungen in der Pflege, um nur zwei Beispiele zu nennen. Vor allem auf dem Arbeitsmarkt müssen wir wieder für faire Bedingungen sorgen. Gute Arbeit muss in Deutschland wieder guten Lohn und feste Jobs bringen. Da ist der dringend notwendige Mindestlohn nur ein kleiner Teil. Oder die wachsende Altersarmut. Wie gehen wir mit denen um, die es körperlich oder psychisch nicht mal schaffen, bis zum 65. Lebensjahr zu arbeiten? Für die ist die Rente mit 67 eine Rentenkürzung. Es gibt also genug „Korrekturbedarf“.
Sie haben nun einige Punkte als für die SPD „unverzichtbar“ erklärt. Aber es muss ja dennoch verhandelt werden. Wie definieren Sie also „unverzichtbar“?
Wir haben in den Sondierungen der Union klargemacht, dass einige Themen für uns von zentraler Bedeutung sind. Umgekehrt kennen wir die zentralen Themen aus der CDU/CSU auch. Darum ging es ja in den Sondierungen. Beide Seiten haben jetzt den Eindruck, dass es möglich ist, auch dort, wo es besonders schwierig ist, gute Lösungen für die Bürger in Deutschland zu finden. Wohlgemerkt: Gut nicht für SPD oder Union, sondern in der Sache und für die Menschen. Es wird keine faulen Kompromisse geben. Das war der Markenkern der Koalition aus CDU/CSU und FDP. Die hatten in ihrem Koalitionsvertrag nichts geklärt, sondern nur 70 Prüfaufträge vergeben. Das Scheitern dieser Koalition begann am Tage des Unterzeichnens des Koalitionsvertrags.
Warum?
Dort ist nämlich alles offen geblieben. Es gab eine falsche Vorstellung davon, was man mit dem jeweils anderen schaffen kann. Am Ende führte das ins Chaos und die FDP aus dem Parlament. Jeder darf sicher sein: So blauäugig gehen wir nicht in die Verhandlungen.
Spielen wir das am Beispiel Mindestlohn einmal durch. Der ist für Sie ja wichtig . . .
. . . nein, er ist nicht für die SPD, sondern für sieben Millionen Menschen wichtig. Ich werde meiner Partei keinen Vertrag zur Annahme empfehlen, bei denen sich die Sozialdemokraten wohlfühlen, aber für die Menschen in der Sache nichts herauskommt. Koalitionsverhandlungen sind kein Tauschbasar, und ein Koalitionsvertrag, der nur die Wünsche beider Parteien addiert, wäre am Ende auch unbezahlbar.
Nun sagen viele in der CDU: Wenn der Mindestlohn von 8,50 Euro kommt, dann wenigstens bitte im Osten mit einer zeitlichen Verzögerung.
Im Koalitionsvertrag wird ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro stehen, weil das Hotelzimmer auf Rügen genauso viel kostet wie das in Eckernförde und es nicht einzusehen ist, dass das Hotelpersonal unterschiedlich bezahlt wird. Menschen, die jeden Tag fleißig arbeiten gehen, müssen am Ende des Monats einen Lohn haben, bei dem sie nicht anschließend noch zum Sozialamt betteln gehen müssen. Wer arbeitet, muss doch wenigstens mehr haben als der, der nicht arbeitet.
Auch nicht mit einem festen Zeitplan zur vollen Angleichung?
Noch einmal: Es gibt keinen Grund, unterschiedliche Löhne zwischen Ost und West festzusetzen, denn die Arbeitsleistung ist ja auch gleich.
Andere in der Union wollen Langzeitarbeitslose oder Gruppen wie Saisonarbeiter von der Mindestlohn-Regelung ausnehmen.
Man kann ja wohl keinem Langzeitarbeitslosen sagen, weil du so lange arbeitslos warst, bekommst du jetzt auch einen schlechteren Lohn. Am Ende dieser ganzen Debatte mit der Union wird ein gesetzlicher, flächendeckender Mindestlohn von 8,50 Euro stehen. Da bin ich sicher.
In der Union wird bemängelt, über Wachstum und Wettbewerb werde nicht mehr geredet.
Doch, darum geht es ja. Unsere große Herausforderung ist: Wie schaffen wir weiter wirtschaftliches Wachstum als Grundlage für sozialen, ökologischen und kulturellen Fortschritt. Da sind drei große Aufgaben liegen gelassen worden: Fachkräftemangel, Energiewende, Infrastruktur. Auf allen drei Feldern brauchen wir Fortschritt ohne Formelkompromiss. Schon deshalb, weil die Projekte, die beide Parteien gerne durchsetzen möchten, bezahlt werden müssen. Das geht nur durch wirtschaftlichen Erfolg.
Bei der Energiewende wird es aber mit planwirtschaftlichen Elementen nicht gehen, das zeigt die Erfahrung mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz.
Das ist auch nicht unsere Absicht. Das EEG war ein sehr gutes Gesetz, als es darum ging, eine neue Technologie zu fördern. Diese Aufgabe hat das EEG längst erfüllt. Jetzt müssen wir klären: Wie verhindern wir weitere Preisanstiege, wie gewährleisten wir Versorgungssicherheit und wie trägt die Energiewende zum Erfolg des Industriestandorts bei? Im Zentrum muss doch die Verbindung von wirtschaftlichem Erfolg und dem Erhalt unserer Industrie mit den ökologischen Zielen der Energiewende stehen. Und ich bin sicher: Das schaffen wir. Da ist die EEG-Reform ein wichtiges, aber nicht das einzige Thema. Das EEG kann nicht bleiben, wie es ist, aber allein mit dieser Reform wäre für die Energiewende nicht viel erreicht.
Kann die SPD angesichts der weiter guten Entwicklung der Steuereinnahmen akzeptieren, dass es zu keinen Erhöhungen kommt?
Darüber werden wir reden. Dabei spielt auch folgende Frage eine Rolle: Ist es richtig, dass 80 Prozent der Gemeinwohl-Ausgaben durch die Einnahmen aus der Einkommen- und Mehrwertsteuer finanziert werden und nur zwölf Prozent durch Einnahmen aus Unternehmens- und Kapitalerträgen? Ist das ein gutes Verhältnis? Im Armuts-und-Reichtums-Bericht der Bundesregierung hat Frau von der Leyen einmal gesagt, dass die wachsende Ungleichheit ein großes Problem sei. Warum sollen wir die Aussagen einer CDU-Ministerin nicht zum Gegenstand von Gesprächen mit der Union machen?
Würde eine Große Koalition neue Akzente in der Euro-Rettungs-Politik setzen?
Wenn es eine Überzeugung gibt, die Union, SPD und übrigens auch die Grünen eint, dann das Eintreten für die Stabilität und die Weiterentwicklung Europas. Es wäre auch für die Arbeitsplätze in Baden-Württemberg eine Katastrophe, wenn der Euro scheitern würde. Mit der Union werden wir sicher eine intensive Debatte darüber führen, wie wir auf einen Wachstumspfad für ganz Europa zurückfinden und zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa beitragen können. Ganz sicher werden wir über das Thema Finanzmarktbesteuerung und -regulierung zu reden haben. Wir werden über die Bankenunion reden. Die SPD-Haltung ist da klar: Es darf auf Dauer keine immer wieder nur durch Steuerzahler finanzierte Rettungspakete für Banken geben. Das müssen die Banken durch Haftungsfonds alleine machen.
War dies die letzte Wahl, vor der die SPD ein Bündnis mit der Linkspartei ausschließt?
Wir haben uns von der Linkspartei distanziert, weil sie ein Programm hatte, mit dem man in der größten europäischen Volkswirtschaft keine Regierungspolitik machen kann. Dort gibt es Leute, die sind für den Austritt aus dem Euro. Es gibt dort Vorstellungen vom Ausstieg aus der Schuldenbremse, die Deutschland in die ökonomische Katastrophe führen würden. Das heißt: Die Frage, ob die Linken 2017 ein möglicher Koalitionspartner sein können, hängt nicht von der SPD ab, sondern der Linkspartei und ihrer Entwicklung selbst. Die Linken müssen selbst entscheiden, wohin sie gehen. Nur damit die SPD den Kanzler stellt, wird meine Partei Deutschland nie in eine unkalkulierbare Koalition bringen.
Am Ende der Verhandlungen hat dann die SPD-Basis das Wort. Wirbt dann die Parteiführung noch mal gezielt für ein Ja zum Vertrag?
Es wird Regionalkonferenzen und viele Veranstaltungen geben. Wir verschicken nicht einfach nur die Abstimmungsunterlagen.
Tun Sie das aus der Einsicht, dass dieser Abstimmung ein Hauch von Vabanque innewohnt?
Nein. Wieso?
Weil die einfachen Mitglieder im Ortsverein, die man öffentlich nicht so wahrnimmt wie die Funktionärsebene, vielleicht gar keine Lust auf Große Koalition haben.
Fast 70 Prozent der SPD-Anhänger wollen laut Umfragen eine Große Koalition. Glauben Sie wirklich, dass die so anders denken als das von Ihnen beschriebene normale Mitglied? Das glaube ich nicht. SPD-Mitglieder sind doch keine Exoten, sondern ganz normale Menschen. Am Ende geht es doch um eine einfache Frage: Bringt der Koalitionsvertrag genug Verbesserungen für die Menschen in Deutschland? Die SPD-Mitglieder werden das ganz rational bewerten.
Und die Briefwähler sollen dann anders ticken als die Dauergäste im Ortsverein?
Wer der SPD beitritt, macht das sehr bewusst. Mehr als jede andere Partei in Deutschland zeigt die SPD seit 150 Jahren, dass sie verantwortungsbewusst mit unserem Land und den Menschen umgeht. Vom einfachen Mitglied bis zum Bundestagsabgeordneten. Darauf kann man sich bei uns immer verlassen.