Wandlerin zwischen den Welten: Die tschechische Snowboard-Weltmeisterin Ester Ledecká rast im Super-G auf zwei Brettern völlig überraschend zum Olympiasieg. Foto: Getty

Ester Ledecká gelingt eine der größten Sensationen in der Geschichte der Winterspiele: Die tschechische Snowboard-Weltmeisterin holt Gold im alpinen Super-G. Und hat nun beste Chancen, Doppel-Olympiasiegerin zu werden. In zwei völlig unterschiedlichen Disziplinen.

Pyeongchang - Lewis Hamilton setzt sich in seiner Freizeit gerne mal auf ein Motorrad, zum Beispiel auf seine MV Augusta F4 RR mit 201 PS. Und jetzt stellen Sie sich vor, der Formel-1-Weltmeister würde ein Rennen in der Moto-GP bestreiten. Gleicher Untergrund, gleiches Ziel, gleiches Ergebnis: Sieg für Hamilton. Geht nicht? Geht doch! Zumindest bei Olympischen Winterspielen. Snowboard-Weltmeisterin Ester Ledecká triumphiert im Super-G. Und die Ski-Welt steht Kopf.

Räumlich trennen Snowboarder und Skifahrer in Pyeongchang ein paar Täler und bewaldete Gipfel, vom Image her liegen sie noch weiter auseinander. Ester Ledecká (22) schlägt die Brücke. Als erste Athletin, die in beiden Disziplinen antritt. Und sogar gewinnt. „Sie ist ein Jahrhunderttalent“, erklärt Selina Jörg, „ihr Sieg im Super-G eine echte Sensation.“ Und Viktoria Rebensburg meint: „Diese Frau ist der Wahnsinn.“ Die beiden wissen, wovon sie sprechen.

Der Österreicherin Anna Veith wird zwischenzeitlich schon zu Gold gratuliert

Jörg ist die beste deutsche Snowboarderin (alpin), Rebensburg die stärkste Skifahrerin. Und sie haben keine Vorstellung davon, was sie tun müssten, um beides hinzubekommen. Von einem Tag auf den anderen von einem Brett auf zwei zu wechseln. Im Training. In den Rennen. Bei Olympia. „Wir fragen uns auch, wie sie das schafft“, sagt Jörg, „ich fahre jetzt schon ein paar Jahre Snowboard – und habe genug zu tun, mich darauf zu konzentrieren.“ Was Ledecká anders macht? Vielleicht weniger nachdenken über ihr außergewöhnliches Talent. „Ich liebe beides, also mache ich beides“, sagt sie, und so groß seien die Unterschiede ja auch gar nicht: „Es geht immer bergab.“ Manchmal schneller als gedacht.

Eigentlich war die Tschechin nach Südkorea gereist, um Gold im Parallel-Riesenslalom zu holen. Sie ist Weltmeisterin, hat diesen Winter fünf Weltcuprennen gewonnen – es ist ein durchaus realistisches Ziel. Womit sie nicht gerechnet hatte: Wenn der Wettbewerb am Samstag (4 Uhr/MEZ) beginnt, ist sie bereits Olympiasiegerin. Weil sie mit der Startnummer 26 alle Alpin-Spezialistinnen hinter sich gelassen hat. Die Österreicherin Anna Veith, der schon eifrig zu Gold gratuliert worden war (unter anderen von IOC-Boss Thomas Bach), um eine Hundertstel Sekunde. Tina Weirather (Liechtenstein) um elf. Und auch Lindsey Vonn (Platz sechs). „Es ist ein bisschen enttäuschend für mich, von einer Snowboarderin geschlagen zu werden“, meinte die Favoritin aus den USA, „aber für sie ist das unglaublich.“ In der Tat.

Im Ziel glaubt Ester Ledecká zunächst an einen Fehler der Zeitmesser

Erst konnte es Ester Ledecká nicht fassen, dass im Ziel die große Eins aufleuchtete. Sie glaubte an einen Fehler der Zeitmesser. Und lieferte später den Beleg, wie überraschend dieser Triumph für sie gekommen war: Bei der Pressekonferenz bedeckte eine große Skibrille ihr halbes Gesicht. Aus Eitelkeit. „Es tut mir leid, aber ich habe kein Make-up dabei“, sagte sie, und meinte dann zu den Journalisten: „Versteht mich nicht falsch, ich will echt nicht unhöflich sein. Aber ich würde jetzt lieber Snowboarden gehen.“ Das Brett hatte Ledecká dabei. Konnte ja keiner rechnen mit dem Rummel.

Dieser wird anhalten, so viel ist sicher. Weil die Tschechin schon jetzt eine der schillerndsten Figuren auf Schnee ist. Und weil sie dies bleiben möchte. In zwei Disziplinen. Ledecká stand mit zwei Jahren erstmals auf Ski, mit fünf Jahren bekam sie ein Snowboard geschenkt. Ihr Vater Janek ist in ihrer Heimat ein bekannter Sänger und Komponist, Mama Zuzana war Eiskunstläuferin, Opa Jan Klapac gewann zwei Olympia-Medaillen im Eishockey. Die Familie konnte sich ein Ferienhaus in einem tschechischen Skigebiet leisten – und auch die duale Karriere der Tochter. „Von Anfang an haben mir die Leute gesagt, ich müsse mich spezialisieren, sonst würde ich nie ein höheres Level erreichen“, sagt Ledecká, die darüber auch ständig mit ihren Trainern diskutierte. Bis sie 14 Jahre alt war. Dann stellte sie klar: „Ich mache beides, und wenn’s dir nicht passt, suche ich mir halt einen anderen Coach.“ Ende der Debatte. Eine Frau, ein Wort.

Als Topfavoritin in den Parallel-Riesenslalom auf dem Snowboard

Heute übt Ledecká in Blöcken, wechselt wochenweise zwischen Snowboard und Skiern. Das erfordert viel Disziplin, extremes koordinatives Können, enorme Leidenschaft. Und zwei Trainer, die das mitmachen. „Die Sportarten ergänzen sich“, meint Tomas Bank, der Ski-Mann, „Skifahren hat ihre Geschwindigkeitsbarriere verschoben, Snowboarden fühlt sich für sie wie in Zeitlupe an. Andererseits ist es viel schwieriger, auf einem Brett einen sauberen Schwung zu fahren. Das hilft ihr beim Skifahren.“ Und Snowboard-Trainerkollege Justin Reiter erklärt: „Durch das Snowboarden hat sie eine viel kreativere Art, zu verstehen, wie ein Berg funktioniert. Deshalb findet sie immer eine Linie.“ Auch bei den Olympischen Winterspielen.

Selina Jörg würde es jedenfalls nicht wundern, wenn Ester Ledecká Doppel-Olympiasiegerin werden würde: „Auf dem Board ist sie in brutaler Form, die absolute Topfavoritin.“ Und dann? Gäbe es nur noch eine Steigerung: Olympia-Gold im Sommer. Da sie auch eine exzellente Windsurferin ist, wurde die Tschechin also gefragt, ob sie sich 2020 einen Start in Tokio vorstellen könne. Ihr Antwort: „Klar, warum nicht?“ Ganz einfach: Weil es so wäre, als würde Lewis Hamilton nicht nur Moto-GP-Rennen bestreiten, sondern auch noch die Rallye Dakar.