Ehemalige Konzerninsider werfen dem Airbus-Konkurrenten vor, schwere Sicherheitsmängel ignoriert zu haben. Zwei von ihnen sind plötzlich verstorben.
Der US-Luftfahrtkonzern Boeing steckt in der wohl tiefsten Krise seiner mehr als hundertjährigen Geschichte, ein Ende der Misere ist nicht in Sicht – im Gegenteil. Kaum eine Woche vergeht ohne Schreckensmeldungen, immer neue Pannen und Unfälle erschüttern das ohnehin schon stark angeknackste Vertrauen in den Flugzeugbauer. Am Donnerstag etwa platze der Reifen einer Boeing 737 der türkischen Billigfluglinie Corendon Airlines, die von Deutschland aus mit 190 Menschen an Bord Richtung Türkei gestartet war. Verletzt wurde niemand, der Flieger konnte in Alanya sicher auf dem Bugfahrwerk landen. Zusätzlich belastet wird Boeing durch schwere Anschuldigungen von Whistleblowern. Zwei von ihnen sind in den vergangenen Monaten plötzlich verstorben. Andere Insider, die gegen Boeing aussagen, berichten von Drohungen durch Vorgesetzte und werfen dem Unternehmen kriminelle Machenschaften vor.
Joshua „Josh“ Dean arbeitete als Qualitätsprüfer beim wichtigen Boeing-Zulieferer Spirit Aerosystems, der unter anderem Flugzeugrümpfe der Problemjets der Modellserie 737 Max baut. Spirit feuerte Dean laut Gerichtsunterlagen im April 2023. Einige Monate zuvor hatte dieser bei seinen Kontrollen falsch gebohrte Löcher in einem Rumpfteil festgestellt, die zu einem gefährlichen Abfall des Kabinenluftdrucks hätten führen können. Laut Dean ignorierte Spirit das Sicherheitsrisiko zunächst und kündigte ihm letztlich, weil er mit seinen Beschwerden zu viel Unruhe stiftete.
Dean erlag am 30. April im Alter von nur 45 Jahren den Folgen einer schweren bakteriellen Infektion. Facebook-Posts von Familienangehörigen zufolge war er rund zwei Wochen vorher wegen Atembeschwerden ins Krankenhaus gekommen, wo sich sein Zustand weiter verschlechterte. „Mein Sohn kämpft um sein Leben“, schrieb seine Mutter. Nach Informationen der US-Zeitung „Seattle Times“, die zuerst über Deans Tod berichtete, ging es dem Whistleblower bis zu der plötzlichen Erkrankung gut. Er sei dafür bekannt gewesen, einen gesunden Lebensstil geführt zu haben.
Weitere Whistleblower bringen Boeing unter Druck. Der Konzern missachte nach wie vor Sicherheitsmängel, sagte der Ingenieur Sam Salehpour vergangenen Monat vor dem US-Kongress. Er berichtete von Einschüchterungen und Androhung körperlicher Gewalt durch Vorgesetzte. „Es macht mir wirklich Angst, glauben Sie mir, aber ich habe meinen Frieden.“ Wenn ihm etwas zustoßen sollte, wisse er, dass er durch seine Enthüllungen viele Menschenleben retten werde, sagte Salehpour. Ex-Manager Ed Pierson beschuldigte Boeing bei der gleichen Anhörung, Dokumente verschwiegen oder beseitigt zu haben, die zur Aufklärung einer Beinahekatastrophe mit einer 737 Max von Alaska Airlines im Januar beitragen könnten. „Ich werde es nicht beschönigen – das ist eine kriminelle Vertuschung.“
Boeings Ruf hat nach Abstürzen zweier fast brandneuer Mittelstreckenjets der Baureihe 737 Max, bei denen 2018 und 2019 insgesamt 346 Menschen starben, stark gelitten. Der Konzern konnte sich danach nicht aus der Krise befreien, auch der Langstreckenflieger 787 Dreamliner macht immer wieder Ärger. Boeing hat milliardenschwere Belastungen verbuchen müssen und steht finanziell unter Druck. Die Aktie liegt seit Jahresbeginn mit über 30 Prozent im Minus, nach einem Rekordhoch bei 440 Dollar (409 Euro) im Jahr 2019 kostete sie zuletzt 180 Dollar. Vorstandschef Dave Calhoun, der das Ruder nach dem 737-Max-Debakel herumreißen sollte, tritt zum Jahresende ab.
Am 9. März war bereits ein anderer Whistleblower überraschend ums Leben gekommen. Der frühere Boeing-Mitarbeiter John „Mitch“ Barnett hatte als langjähriger Qualitätsmanager im Werk in South Carolina, wo der Flugzeugbauer seine 787 Dreamliner fertigt, tiefe Einblicke in die Produktion. Barnett hatte 2017 ein Whistleblower-Verfahren wegen aus seiner Sicht gravierender Sicherheitsverstöße gegen Boeing gestartet und das Unternehmen in Interviews mit der „New York Times“ und der BBC schwer belastet. Er befand sich mitten im Rechtsstreit mit dem Konzern, vor dem für Juni angesetzten Gerichtsprozess musste er Boeings Anwälten unter Eid Rede und Antwort stehen.
Nachdem Barnett über zwei Tage ausgesagt hatte, erschien er nicht mehr zum Kreuzverhör. Dann wurde er tot in seinem Pick-up-Truck auf dem Parkplatz seines Hotels in Charleston gefunden. Nach Angaben der dortigen Rechtsmediziner starb er an den Folgen einer sich selbst zugefügten Kopfschusswunde. Die örtliche Polizei kündigte weitere Ermittlungen an.
Laut Barnetts Anwälten von der Kanzlei Knowles International, die auch Joshua Dean vertrat, war Barnett kurz vor seinem Tod noch guter Dinge. „Wir haben keine Hinweise dafür gesehen, dass er sich das Leben nehmen würde. Niemand kann es glauben“, hieß es in einem Statement. „Wir brauchen mehr Informationen.“ Die Anwaltsfirma gab auf Nachfrage unserer Zeitung an, noch mehr als zehn weitere Whistleblower zu vertreten – sowohl frühere als auch aktuelle Mitarbeiter von Boeing und Spirit mit Sicherheitsbedenken hinsichtlich der Flugzeugmodelle 737 Max und 787 Dreamliner. „Luftfahrtunternehmen sollten diejenigen, die solche Sorgen äußern, ermutigen und belohnen und keine Vergeltung gegen sie üben. Menschenleben stehen auf dem Spiel“, erklärten Barnetts und Deans Anwälte, Brian Knowles und Robert Turkewitz.
Pizza-Partys“ um angebliche Fortschritte im Qualitätsmanagement zu feiern
Boeing sprach Barnetts Angehörigen Mitgefühl aus, äußerte sich zu dem Todesfall aber nicht weiter. „Unsere Gedanken sind bei seiner Familie und seinen Freunden“, teilte der Konzern mit. Ähnlich klang die Stellungnahme von Spirit Aerosystems zum Tod Deans. Allerdings hatte der Whistleblower das Unternehmen stark belastet. Dean hatte vor einem Arbeitsgericht Beschwerde gegen seine Kündigung eingelegt und bei der US-Luftfahrtaufsicht zur Anzeige gebracht, dass Spirit die von ihm entdeckten Sicherheitsrisiken vertuscht habe. Zudem war er ein wichtiger Zeuge bei einer Klage von Aktionären, die Spirit beschuldigen, sie über die Produktionsmängel getäuscht zu haben.
In dem Verfahren gab Dean eine eidesstattliche Erklärung ab und machte dem Boeing-Zulieferer heftige Vorwürfe. In Gerichtsunterlagen beschuldigte er Führungskräfte, die Anzahl von Defekten manipuliert zu haben. So habe es bei Spirit „Pizza-Partys“ gegeben, um angebliche Fortschritte im Qualitätsmanagement zu feiern, obwohl in Wirklichkeit nur die Zahlen frisiert worden seien. Dem US-Sender NPR sagte Dean im Januar, dass seine Entlassung eine Vergeltungsmaßnahme gewesen sei, weil er „zu viel Ärger“ gemacht habe. „Ich glaube, sie haben eine Botschaft an alle anderen gesendet – wenn ihr zu laut seid, werden wir euch zum Schweigen bringen.“
Spirit weist die Vorwürfe entschieden zurück und will sich vor Gericht energisch verteidigen. Dem Unternehmen nach erfolgte Deans Kündigung, weil er einen schwerwiegenden Konstruktionsfehler bei Boeings 737 Max übersehen habe, der im April 2023 zu einem Auslieferungsstopp führte und Spirits Aktie an der Börse einbrechen ließ. Tatsächlich entdeckte Dean das besagte Problem bei einer Überprüfung nicht, er begründete dies den Gerichtsakten zufolge damit, dass er sich zu diesem Zeitpunkt auf die anderen Mängel mit den falschen Bohrungen konzentriert habe. Zudem sei ihm der nötige Zugang zu allen relevanten Teilen des Fertigungsprozesses verwehrt worden.
Die Krise bei Boeing eskalierte
Tatsächlich musste Spirit nach einem Bericht im Fachportal „The Air Current“ im August 2023 – rund zehn Monate nachdem Dean intern auf den Defekt aufmerksam gemacht hatte – öffentlich einräumen, dass falsch gebohrte Löcher im hinteren sogenannten Druckschott der Boeing 737 Max festgestellt wurden. In den folgenden Monaten eskalierte Boeings Krise weiter. Vorläufiger Höhepunkt war das Beinaheunglück am 5. Januar, als in knapp 4900 Meter Höhe ein großer Teil der Kabinenwand einer mit 183 Menschen besetzten Boeing 737 Max herausbrach und plötzlich ein riesiges Loch im Flugzeugrumpf klaffte. Angesichts der andauernden Probleme bei Spirit erwägt Boeing inzwischen eine Rückübernahme des Zulieferers, der bereits bis 2005 zum Konzern gehörte.