Szene aus „Einige von uns“ Foto: Julian Marbach

Das Performance-Kollektiv She She Pop hat sich im Schauspielhaus Stuttgart und bei seinen Mitarbeitern umgeschaut. Mit dem Lehrstück „Einige von uns“ präsentiert die Gruppe einen Blick hinter die Kulissen und über sie hinaus.

Stuttgart - Noch verhüllt der eiserne Vorhang die Bühne und dient als Leinwand: Sie zeigt den Saal des Schauspielhauses Stuttgart als Spiegelung, das Publikum sucht dort seine Plätze, verteilt sich auf die Reihen. Dann erscheinen am Donnerstag zu Beginn von She She Pops Lehrstück „Einige von uns“ als Film Impressionen des Theateralltags. Die Lagerräume, das Mischpult, der Orchestergraben, die Menschen, die an diesem Orten arbeiten, Kostüme nähen, falsche Bärte schneiden, hämmern, klopfen. Leise Stimmen, der Klang des großen Hauses.

Der Vorhang hebt sich, und wieder scheint die Bühne nur den Saal zu spiegeln, denn er gibt den Blick frei auf weitere Stuhlreihen, die jenen im Saal gegenüber stehen: Eine Tribüne auf der Bühne. Grelles Licht fällt auf das Publikum, eine Stimme meldet sich mit einer trockenen Durchsage: „Die Damen und Herren Zuschauer bitte auf die Bühne!“

Das Publikum, unversehens von zahlenden Gästen zu honorarfrei arbeitenden Mitspielern avanciert, folgt aufs Wort. Die Leute trotten nehmen auf der Bühne Platz. Der Vorhang senkt sich, die Welt, die zusieht, wird ausgeschlossen, und das Schauspiel Stuttgart tritt auf: Darsteller, Techniker, Handwerker, Assistenten, Direktoren. Sie erzählen von wohliger Gemeinschaft, von „dem Moment“. Theaterglück: „Das sind Momente, in denen alles stimmt, alles fügt sich dann zusammen.“

Und sie berichten, von ihren Erfolgen, ihren Misserfolgen, auf der Bühne, hinter der Bühne. Das Schauspiel wird zum Chor, aus dem sich immer wieder Sprecher lösen: „Man hat mich zwar nicht gesehen, aber eigentlich war ich dabei.“ Einige Mitglieder der Performancegruppe She She Pop arbeiten an einem Pult zur Seite der Bühne, einige spielen mit: „Wir mögen Regeln, wir mögen Spiele.“ Ein Lehrstück, erklären sie, sei in der Definition Bertolt Brechts ein Stück, bei dem es kein Publikum gibt, bei dem jeder mitwirkt, sich erfährt und sich verändert. Das klingt didaktisch, aber wenn es so umgesetzt wird, langweilt es nicht.

„Einige von uns“ handelt vom Leben im Theater. In diesem Projekt trifft eine freie Gruppe aufs Stadttheater, in der Hoffnung, voneinander lernen, einander inspirieren zu können. Zwei Jahre lang haben ihre Mitglier immer wieder mit Angestellten des Schauspiels gesprochen. Das Leben im Theater erweist sich als so vielschichtig wie ein Bühnenstück. Ein Techniker erzählt, wie er eine Sicherung sehr riskant überbrückte, um eine Vorstellung zu retten, er erhält nun seinen Applaus. Ein selbst ernannter „Banause“, der zuvor „Tischler“ auf seinem Papier geschrieben und an die Brust geheftet hatte, tritt auf. Eine „Ängstliche“, eine „Heldin der Arbeit“. Sie sprechen über Launen, Intrigen, Manipulation. Und doch wird das Theater dabei auch zur Möglichkeit einer Utopie, in der die Entfremdung aufgehoben scheint: „Einige von uns“, sagt einer aus der Gruppe, „haben eine besondere Aufgabe in diesem Apparat“ – alle treten vor.

Es ist ein Abend, an dem Hierarchien hinterfragt werden, Arbeitsbedingungen, individuelle, allgemeine. „Was ist sicher?“, fragt ein Mitglied des Schauspiels. Stimmen antworten: „Immobilien, hab ich mir sagen lassen.“ – „Maschinen, die nicht laufen.“ - „Die Brandschutzeinrichtungen hier im Haus.“ Und irgendwann fällt auch das Wort von der kaputten Drehbühne. Und das Publikum? Bleibt lange Zeit einfach sitzen. Darf dann auch Sätze aufsagen, die auf Video-Leinwand vorgegeben werden. „Aha!“, das ist ihr erstes Wort. „Wir haben euch erwartet“, fährt es fort, „wir sind voller Mut, aber wir sind es nicht gewohnt, im Chor zu sprechen.“ Sie werden es lernen, sehr schnell.

Die Freiheit, die eigene Stimme zu erheben, nehmen sich wenige, immerhin eine Dame protestiert selbstständig: „wir wehren uns!“ Denn, so will es das Lehrstück, einer muss sterben. Die Maßnahme, die She She Pop und die Mitarbeiter des Schauspiels beschließen, ist nicht – wie bei Brecht – die Exekution des Einzelnen, die dem Kollektiv dient. Das Kollektiv soll hingerichtet werden, die Masse der Zuschauer im Dunkel. Jeder muss seine Funktion überdenken, damit allzu eingefahrene Strukturen aufgebrochen werden können. Dennoch – das Publikum will nicht. „Das ist so eine dramaturgische Sache“, entschuldigen sich die Darsteller. „Wir verstehen das auch nicht.“ Sorgen sollen sich die Zuschauer aber keine machen: „Wo ihr hinkommt, das wird Mitmachhölle genannt.“

So viel Selbstironie ist selten an diesem Abend, an dem die Theaterfragen mit fast heiligem Ernst verhandelt werden. Und auch wenn das Publikum nun mitdiskutieren und zurückfragen darf, für wen bitte schön Theater gespielt wird, wenn’s kein Publikum mehr gibt: das Urteil will vollstreckt werden. Die Mitarbeiter des Schauspiels richten den Zeigefinger auf die Zuschauer, der Vorhang hat sich wieder zur Hälfte gehoben, draußen, in den Reihen der echten Stühle, schießt die Rüstmeisterin in die Luft.

„Was bleibt?“ darf der Chor der symbolisch Exekutierten, zuletzt noch flüstern. Was bleibt, nach diesem Lehrstück? Dort, wo sonst gespielt wird, eine Illusion von Wirklichkeit errichtet, stehen nun Menschen, die noch lange nach der zweistündigen Aufführung miteinander sprechen über eine gewitzte Lektion, ein großes Fragezeichen.

Termine: 16., 17. Mai, je 19.30 Uhr.