Thomas Stetter sucht an der Tübinger Straße in Stuttgart Orientierung. Foto: Michele Danze

Shared Space heißt der Verkehrsversuch in der Tübinger Straße. Auf der Misch-verkehrsfläche sollen Autofahrer, Radler und Fußgänger gleiche Rechte haben und Rücksicht nehmen. Bisher führt das zu Verunsicherung bei Blinden und Älteren sowie zu einer Flut von Falschparkern.

Stuttgart - Thomas Stetter bewegt sich zügig durch die Stadt. Und das obwohl der Regionalleiter des Sehbehindertenvereins Pro Retina fast blind ist. Mit seinem Stock folgt er den Blindenleitlinien im Boden. Bis zur Einmündung der Königstraße in die Tübinger Straße. Da enden die Rillen im Belag abrupt – und Sehbehinderte „landen irgendwo im Nirwana“, sagt Stetter.

Nicht zum ersten Mal bringt der umgebaute Bereich Blindenvertreter auf die Palme. Die Mischverkehrsfläche, die im November als Versuch eröffnet worden ist, und der angrenzende Übergang zur Königstraße stellen aus ihrer Sicht eine große Gefahr dar. In diesem Teil der Tübinger Straße gilt Tempo 20, Autos dürfen dort nicht parken, es gibt keine Bordsteine, alle Verkehrsteilnehmer sollen sich die Fläche gleichberechtigt teilen. „Der Autofahrer hat dieselben Rechte wie ich, aber er ist stärker“, sagt Stetter.

An vielen Stellen enden die Linien für Blinde im Nichts. Ein paar Meter weiter führen sie direkt auf eine Wand zu statt daran vorbei. Auf einer Straßenseite fehlen sie weitgehend komplett – genauso wie auf der Kreuzung vor dem Tübinger Carré. „Ein Überqueren der Straße ist nicht möglich“, sagt Stetter, „alles ist glatt wie ein Kinderpopo.“ Überall stehen parkende Autos im Weg, wo sie nicht sein dürften. Weil die EU das Modell unterstütze, gehe es den beteiligten Städten nicht um Verkehrsberuhigung, sondern „nur ums liebe Geld“.

Enorme Probleme mit Falschparkern

Beim Tiefbauamt räumt man ein, dass es besonders an den Querungsstellen Probleme gebe. Viele Linien seien zu weit auseinander. „Wir korrigieren das jetzt“, heißt es dort. Dafür hat sich auch Bezirksvorsteherin Veronika Kienzle nach einer Begehung eingesetzt: „Wir müssen schauen, dass man dort etwas macht. Das darf auch nicht daran scheitern, ob das gestalterisch passt.“

Ob das Problem damit behoben sein wird, ist allerdings fraglich. „Es gibt dort enorme Probleme mit Falschparkern“, sagt Kienzle. Es herrsche eine „unfassbare Ignoranz“. Der Lernprozess auch in Sachen Tempo habe noch nicht eingesetzt. „Die Autofahrer sehen die Fläche als Einladung an“, bestätigt Joachim Elser. Der Leiter der städtischen Verkehrsüberwachung hat innerhalb eines halben Jahres dort mehr als 2000 Bußgelder gezählt. „Das ist einer unserer Schwerpunkte“, sagt er. Immerhin: Seit Fertigstellung der Mischverkehrsfläche hat es dort laut Polizei lediglich drei kleine Unfälle gegeben.

Kienzle sieht trotz der Probleme das Konzept der Mischverkehrsfläche nicht als gescheitert an. „Wir müssen nachbessern, das ist keine Frage“, sagt sie. Andererseits hätten zum Beispiel die Gewerbetreibenden die Vorteile klar erkannt und seien zufrieden mit dem Modell. „Wir dürfen deshalb diese zukunftsweisende innerstädtische Verkehrsstruktur nicht grundsätzlich infrage stellen“, sagt die Bezirksvorsteherin.

Wie zukunftsweisend das Konzept tatsächlich ist, wird allerdings kontrovers diskutiert. Auch innerhalb der Stadtverwaltung. „Die Idee, die dahinter steht, ist gut“, sagt die städtische Behindertenbeauftragte Ursula Marx, „allerdings muss man klar sagen, dass sehr viele Menschen von den erhofften Vorteilen ausgeschlossen werden.“ Das seien nicht nur Blinde, sondern auch viele ältere Menschen mit eingeschränkter Sehkraft. „Die Geschichte ist einfach zu gefährlich, deshalb muss man das ganze Modell kritisch betrachten“, sagt Marx. In den Niederlanden baue man manche Versuchsflächen bereits wieder um.

Selbst Experten streiten

Gemischte Erfahrungen hat man auch in der ersten deutschen Gemeinde gemacht, die vor gut vier Jahren einen Shared Space eingerichtet hat. Laut einer Analyse ist die Mehrheit der Bewohner der niedersächsischen Kleinstadt Bohmte mit dem Versuch zufrieden. Allerdings hat sich die Zahl der Unfälle im ersten Jahr nach dem Umbau nahezu verdoppelt. Der Verkehr staut sich nun zwar nicht mehr in der Ortsmitte, allerdings fließt er viel zu schnell statt besonders vorsichtig. Selbst Experten streiten darüber, ob das Modell überhaupt Zukunft hat.

Beim Stuttgarter Ordnungsamt ist man wenig zuversichtlich. Eine Verbesserung der Lage sei derzeit nicht erkennbar, sagt Joachim Elser. Für Thomas Stetter gibt es nur eine Lösung: „Solange die Mängel nicht beseitigt sind, werden Blinde und Sehbehinderte die Tübinger Straße meiden wie der Teufel das Weihwasser.“