„Es gibt keine Checkliste, nach der man sagen kann: Wenn dieses Symptom und dieses Verhalten vorliegt, handelt es sich sicher um sexuellen Missbrauch“, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert vom Uniklinikum Ulm. Foto: Fotolia/© obeyleesin

Möglichen Missbrauch von Kindern zu erkennen, ist nicht leicht – Worauf man achten sollte, erklärt der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert vom Uniklinikum Ulm.

 
Herr Fegert, vermitteln die bekannten Missbrauchsskandale – etwa bei den Regensburger Domspatzen – einen guten Eindruck von der Häufigkeit sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen?
Das hängt davon ab, was als sexueller Missbrauch angesehen wird. In der Wissenschaft gibt es unterschiedliche Definitionen – allein schon, um das gesamte Feld an sexueller Gewalt gegenüber Kindern zu beschreiben. Nimmt man Taten ohne Berührungen und Übergriffe mit Penetration und Berührungen im Genitalbereich zusammen, kommt man zu sehr hohen Zahlen. Doch selbst wenn man zur Verdeutlichung der riesigen Dimensionen nur die härtesten Fälle – also die mit Penetration oder der Berührung im Genitalbereich – nimmt, betrifft es mehrere Prozent der Kinder, die in Deutschland leben. Anders ausgedrückt: Sexueller Missbrauch ist so häufig wie das Auftreten von Volkskrankheiten.
Woran kann man erkennen, dass ein Kind missbraucht wurde?
Es gibt keine Checkliste, nach der man sagen kann: Wenn dieses Symptom und dieses Verhalten vorliegt, handelt es sich sicher um sexuellen Missbrauch. Natürlich gibt es Auffälligkeiten – etwa wenn Kinder, die gut in der Schule zurechtkamen, plötzlich nicht mehr zum Unterricht wollen oder wenn ihre Leistungen einbrechen. Oder wenn sie eine große Scheu zeigen, mit einer bestimmten Person zusammen zu sein. Das kann aber auch ganz andere Gründe haben. Selbst freudige Ereignisse, wie beispielsweise die Geburt eines Geschwisterchens, kann ein Kind belasten. Wichtiger ist, dass man mit den Kindern redet, ihnen zuhört und ihnen glaubt.
Sprechen Kinder von sich aus die Taten an?
Kinder sagen oft: da möchte ich nicht mehr hin, der ist so komisch. Das Wort „komisch“ wird in solchen Fällen sehr häufig gebraucht. Dann sollten sich Eltern mit dem Kind hinsetzen und zuhören – nicht einfach sagen: Aber Fußball macht Dir doch so viel Spaß – Du gehst weiter hin. Was mich damals, als wir zum ersten Mal die Begleitforschung bei dem Hilfetelefon unternommen haben, am meisten schockierte, war die hohe Zahl der Betroffenen, die früh angesprochen haben, was mit ihnen gemacht wurde – ohne dass ihnen geglaubt wurde. Es ist nicht so, dass Kinder sich nicht äußern. Vielmehr wird überhört oder übergangen, was Kinder sagen.
Was tut man, wenn der Verdacht keimt, dass ein sexueller Missbrauch vorliegt?
Als erstes ist es wichtig, dass man nicht gleich panisch wird. Schnelles Handeln ist gefordert, wenn ein Kind direkt missbraucht worden ist und es darum geht, Spuren zu sichern. Oft steht bei sexuellem Missbrauch Aussage gegen Aussage. Doch mit dem genetischen Fingerabdruck kann man mit fast hundertprozentiger Sicherheit einen Täter überführen. Die meisten Missbrauchsfälle liegen aber schon einige Zeit zurück, wenn sie zur Sprache kommen. Dann braucht es Gespräche, in denen man gemeinsam mit dem Kind das weitere Vorgehen überlegen sollte.
Die Kinder sollen stets einbezogen werden?
Das ist wichtig für deren Schutz: Es ist so oft über den Willen der Kinder hinweggegangen worden, dass manche selbst Hilfen als Strafe auffassen. Ich hatte als Gutachter mal mit zwei Jungs zu tun, die im Heim extrem schwierig geworden waren – Jahre, nachdem sie missbraucht worden waren. Was war passiert? Sie hatten die Heimunterbringung als Strafe wahrgenommen. Die Täter von damals waren wieder aus der Haft entlassen, die Jungs aber dachten, dass es ungerecht sei, dass sie weiter im Heim bleiben mussten. Im Gespräch stellte sich heraus, dass die Kinder unheimlich gern in der Einrichtung waren – aber es hatte ihnen niemand erklärt, wie es dazu gekommen ist. Die Sache konnte dann aufgeklärt werden und die Probleme legten sich. Wichtig ist beim Gespräch, Kindern keine Suggestivfragen zu stellen oder nach einer bestimmten Person zu fragen. Kinder sollte man erst einmal reden lassen – allein schon aufgrund der Rechtsprechung zur Glaubhaftigkeit von Aussagen. Da sind spontan geäußerte Mitteilungen etwas ganz Wichtiges.
Die Fälle bei den Regensburger Domspatzen, im Kloster Ettal oder in der Odenwaldschule – welche Umstände innerhalb einer Institution begünstigen sexuelle Übergriffe?
Es gibt die Missbrauchsfälle in einem eher rigiden konservativen Umfeld, in dem vieles über Einschüchterung und falsch verstandene Regeln durch Täter bewerkstelligt werden konnte – etwa in Einrichtungen der katholischen Kirche. Und dann gibt es noch das andere Extrem – beispielsweise die Odenwaldschule –, in der eine freizügige Erziehung vorherrschte und wo es ebenfalls zahlreiche Missbrauchsfälle gab. Auf den ersten Blick scheint das nicht zusammenzupassen. Für charakteristisch halte ich, dass man in beiden Kontexten das Besondere der Einrichtung hervorgehoben hat. Jede negative Meldung nach außen wurde als etwas betrachtet, das der Einrichtung schadet. So wurde ein Gruppenbewusstsein geschaffen, in dem Kritiker als Nestbeschmutzer gelten. Dieses Verhalten haben wir in allen Institutionen festgestellt, in denen Missbrauchsfälle vorkamen – nicht nur in kirchlichen Einrichtungen und Schulen, auch in Vereinen. Daher müssen Institutionen transparent vorgehen, wenn sie das Vertrauen der Eltern und Kinder haben wollen.
Was erhoffen Sie sich von der wissenschaftlichen Begleitstudie, die nun angelaufen ist?
Bei der ersten Forschung war es erst einmal wichtig, der Bundesregierung Daten zu liefern, wie verbreitet sexueller Missbrauch in Deutschland war und ist. So entstand überhaupt das Hilfetelefon. Gleichzeitig wurde deutlich, dass weiterhin Beratungsbedarf besteht – deshalb wurde das Hilfetelefon fortgesetzt. Die Begleitforschung musste enden, weil es keine Gelder mehr dafür gab. Das hat aber auch zu dazu geführt, dass man keinen genauen Überblick mehr darüber hatte, was die Hauptprobleme der Betroffenen sind, die sich heute an das Hilfetelefon wenden. Das wollen wir jetzt im zweiten Durchgang ändern. Zudem wollen wir die Leute mit einem Fragebogen nach Misshandlungen, Vernachlässigungen und Missbrauchserfahrungen in der Kindheit fragen. So haben wir bessere Vergleichsmöglichkeiten mit internationalen Studien. Uns interessiert die Frage, ob und wie die Betroffenen mit der Belastung im Leben klarkommen. Daran erkennen wir, welche Hilfen nötig sind und was Betroffenen bei der Bewältigung geholfen hat.
Sie wollen also auch Menschen zum Anruf ermuntern, die in der Vergangenheit Missbrauch erlebt haben – was unter Umständen Jahrzehnte zurückliegen kann?
Das Hilfetelefon suggeriert ja, das nur jemand anruft, der Hilfe braucht. Bei dem Forschungstelefon, das wir zusätzlich schalten, interessieren uns auch Betroffene, denen es heute gut geht. Beispiele von Leuten, die sich heraus gerappelt haben, können anderen Mut machen. Mich ärgert es, wenn bei sexuellem Missbrauch von Seelenmord die Rede ist. Das ist nicht immer so. Man kann etwa mit Hilfe von Therapien viel erreichen: Ich hatte eine Patientin, die aus ihren Erlebnissen die Motivation genommen hat, eine gute Schülerin zu werden, Jura zu studieren und Richterin zu werden. Schlimmste Erfahrungen könne ein Ansporn sein, die Welt ein bisschen besser zu machen.

Zur Person

Jörg Fegert ist seit 2001 Ärztlicher Direktor und Gründer der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Uniklinik Ulm.

Hilfetelefon sexueller Missbrauch

Das Hilfetelefon Sexueller Missbrauch wurde 2010 eingerichtet. Es ist ein Angebot des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und eine bundesweite, kostenfreie und anonyme Anlaufstelle für Menschen, die Beratung und Hilfe suchen, die sich um ein Kind sorgen, einen Verdacht oder Fragen zum Thema haben. Die Mitarbeiter am Hilfetelefon haben langjährige berufliche Erfahrung im Umgang mit sexueller Gewalt an Kindern. Jedes Gespräch bleibt vertraulich. Telefon: 08 00/22 555 30.

Das Hilfetelefon Forschung wendet sich an Betroffene von sexuellem Missbrauch und Angehörige, die sich an Forschung zu belastenden Kindheitserlebnissen beteiligen möchten und keinen akuten Beratungsbedarf haben. Die Daten werden vom Uniklinikum Ulm anonym ausgewertet. Telefon: 08 00/44 555 30.