Schmaler Grat: Sportvereine und sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche Foto: Factum/Weise

Nicht nur die Vorwürfe gegen einen Fechttrainer in Tauberbischofsheim belegen: Vereine brauchen wirksame Alarm- und Kontrollsysteme zur Vorbeugung gegen sexuelle Übergriffe.

Stuttgart - Kinder im Sportverein: Das bedeutet Freude an Bewegung, Spaß mit Gleichaltrigen – und alles unter der Obhut wohlwollender Erwachsener. Als sich Tanjas Mutter an den Abteilungsleiter des kleinen Sportvereins auf der Schwäbischen Alb wendet, ist die heile Welt aber beschädigt. Schritt für Schritt kommt ans Tageslicht: Erst berührte der Turntrainer das zierliche Mädchen wie zufällig an den Beinen, später streifte er sie immer mal wieder an den Brüsten, einmal spürte Tanja bei der Hilfestellung am Sprung seine Hand am Schritt. Sie habe sich abgrundtief geschämt, erzählt die damals 12-Jährige Monate später.

Weil Tanja fürchtet, aus der Riege fürs nächste Turnfest gestrichen zu werden, behält sie die Vorkommnisse für sich. Aber das Turnen macht ihr immer weniger Spaß. Sie schwänzt häufig das Training. Die Mutter, instinktiv im Sorgemodus, forscht nach den Gründen. Tanja zögert, mauert, erfindet halbgare Ausreden, schließlich bricht es unter Tränen aus ihr heraus. Der Abteilungsleiter hört sich Tanjas Mutter an, lacht, spricht von der Märchenstunde einer Pubertierenden: „Die Kleine hatte schon immer eine blühende Fantasie. Der Pit macht das hier, so lange ich denken kann. Ist nie was vorgefallen. Für den sind die Turnkinder so, als wären sie seine eigenen. Ich lege für ihn meine Hand ins Feuer.“

Leistungssportler besonders gefährdet

Das alles ist schon etliche Jahre her – und Pit kein Trainer mehr. Der Abteilungsleiter trat zurück. Weil Tanjas Mutter nicht locker ließ, offen mit den Eltern anderer Turnkinder sprach, verdichtete sich der Eindruck: Pits zufällige Berührungen waren Methode. Ein Fall, der zeigt: Junge Athleten, besonders im Leistungssport, können unter bestimmten Bedingungen Opfer von sexualisierter Gewalt werden.

Oft besteht zwischen Trainer und Sportler eine Art von Abhängigkeitsverhältnis. „Machst du nicht mit, fliegst du aus dem Kader!“ Trainingslager, Wettkampffahrten oder Ausflüge mit Übernachtungen erhöhen das Risiko sexueller Übergriffe zusätzlich. Erst als vor sieben Jahren die Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen (Canisius-Kolleg, Odenwaldschule) an die Öffentlichkeit kamen, widmete sich auch der Sport dem Thema, dem er bis dahin wenig Aufmerksamkeit schenkte.

„Plötzlich meldeten sich bei uns Menschen mit Fällen, die Jahrzehnte zurücklagen“, bestätigt Heiner Baumeister, Pressechef des Württembergischen Fußballverbands (WFV), „doch entweder lebten die betroffenen Trainer oder Betreuer nicht mehr, oder die Tatbestände waren verjährt.“ Die Fußballer wappneten sich für künftige Vorkommnisse. Seit sechs Jahren gibt es einen Ombudsmann, an den sich Sportler und Eltern vertraulich wenden können.

Zehn Fälle in sieben Jahren

In den vergangenen sieben Jahren registrierte der Fußballverband zehn Fälle unter den rund 120 000 Jugendkickern in Württemberg. Nicht immer bestätigten sich die Vorwürfe, einige Verfahren stellte die Staatsanwaltschaft ein, zweimal kam es zur Verurteilungen mit Freiheitsstrafen. Doch ganz gleich in welcher Sportart: Meist überschreiten Trainer, Betreuer oder Mitspieler die roten Linien – beim Training, in der Umkleide, in der Dusche. Trainer brüsten sich mit sexistischen Sprüchen und Diffamierungen. Spieler laden Nacktfotos von Teamkollegen mit hämischen Kommentaren in den sozialen Medien hoch. Wer sich verweigert, wird als „Spack“ beschimpft.

In einer gemeinsamen Studie („safe sport“) befragten Ende vergangenen Jahres Wissenschaftler der Deutschen Sporthochschule Köln und des Uniklinikums Ulm 1800 Kaderathleten ab 16 Jahren aus 128 Sportarten zu ihren Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen. Ein Drittel der Sportler gab an, so etwas schon erlebt zu haben. 18 Prozent erzählten von Massagen oder seltsamen Berührungen. Drei Prozent schrieben, sie seien ungewollt geküsst oder sogar vergewaltigt worden. 220 von 13 000 Vereinen, die bereit zur Auskunft waren, teilten mit, sie hätten in den vergangenen fünf Jahren Beschwerden über sexualisierte Gewalt erhalten. 7,2 Millionen Kinder- und Jugendliche trainieren regelmäßig in 90 000 deutschen Sportvereinen. Sexualforscher gehen davon aus, dass einer von hundert Männern zur Pädophilie neigt, bei ungefähr 260 000 Trainern und Übungsleitern in deutschen Sportvereinen, könnten – rein statistisch betrachtet - 2600 von dieser Neigung betroffen sein.

Vor Tagen wurden Verdachtsfälle vom Olympiastützpunkt der Fechter in Tauberbischofsheim publik. Der Vorwurf: jahrelange sexuelle Belästigung von Sportlerinnen. Ende März sorgte das Geschehen um einen Tischtennistrainer in Höfingen bei Ludwigsburg für Bestürzung. Er soll mehr als zehn Kinder missbraucht haben. 1995 wurde ein Stuttgarter Eislauftrainer zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe von 25 000 Euro verurteilt, weil er Sportlerinnen geschlagen und sich sexuell an ihnen vergangen hatte. Den Eltern der betroffenen Mädchen schleuderte der Richter entgegen: „Hoffentlich werden einige von ihnen schlechter schlafen.“ Sie hatten um des Erfolges willen beide Augen zugedrückt.

Kultur des Hinschauens

„Wir brauchen eine Kultur des Hinschauens“, sagt Mathias Bauer, Geschäftsführer der Württembergischen Sportjugend (WSJ). Eine Botschaft, die seit der Novellierung des Kinderschutzgesetzes im Jahr 2012 zwar zögerlich, aber unumkehrbar auch in den großen Sportverbänden angekommen ist. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) reagierte mit Leitlinien gegen sexualisierte Gewalt für Vereine und Verantwortliche, der Deutsche Fußball-Bund (DFB) gibt eine Broschüre heraus („Kinderschutz im Verein“), auf den Webseiten der Sportfachverbände finden sich Hinweise auf Organisationen, die Hilfen anbieten.

Die Württembergische Sportjugend bietet Schulungen für Schutzbeauftragte gegen sexualisierte Gewalt in den Vereinen an, hilft bei Präventionsprogrammen und Schutzkonzepten. Bei der Ausbildung von Übungsleitern ist das Thema längst Pflicht.

Das Jugendamt der Stadt Stuttgart verschickte an 300 Vereine eine Vereinbarung zum „Schutzauftrag der Jugendhilfe“. Ein siebenseitiges Konvolut mit Regeln, Richtlinien und Zuständigkeiten, das unterschrieben zurückgefordert wurde.

Anfangs stieß das Amt auf Empörung, das Papier musste nachgebessert, einiges noch erläutert werden. Manch Vereinsvorsitzender hatte vor dem Paragrafen-Dschungel wütend kapituliert: „Ich fasse es nicht, noch mehr Bürokratie.“ Als ob es nicht schon genug Aufwand wäre, die Übungsleiter neuerdings zur Vorlage eines erweiterten polizeilichen Führungszeugnisses zu verpflichten. Dort werden Sexualstraftaten über zehn Jahre rückwirkend dokumentiert, aber eben auch andere Delikte. Was die Handhabung unter Datenschutzaspekten nicht gerade einfacher macht. Im Rems-Murr-Kreis rührte sich prompt der Widerstand. „Wir machen da nicht mit“, schimpft der Sportkreisvorsitzende Erich Hägele, „wenn wir unsere Ehrenamtlichen mit so einem Papier vergraulen, ist auch nichts gewonnen.“ Doch die Front bröckelt.

Vereine sind zunehmend sensibilisiert

„Es wächst die Einsicht, dass es sinnvoll ist, sich mit dem Thema Kinder- und Jugendschutz zu beschäftigen“, relativiert Joachim Kristen, der stellvertretende Sportkreis-Jugendleiter. Wohl auch, weil ohne die Vereinbarung mit den kommunalen Jugendämtern keine öffentlichen Zuschüsse mehr für Freizeiten und Ausflüge fließen. Juristisch ist das Papier aber umstritten. Die einen nennen es ein nutzloses Alibi, die anderen halten es für hilfreich, „falls doch mal was passiert“. Einig sind sich die Experten nur darin, dass die angekurbelten Schutzmaßnahmen alle Beteiligten sensibilisieren, sich im Verdachtsfall zu kümmern und sich an Fachpersonal der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen zu wenden. Die roten Linien immer im Blick. „Die Vereine sind wachsamer geworden“, versichert Michael Bulach, Geschäftsführer der Stuttgarter Sportkreisjugend.

„Die Luft knistert nicht gerade bei diesem Thema“, räumt Andrea Philipp-Soppa vom Stuttgarter Jugendamt ein, „aber inzwischen ist die Problematik bei uns in der Stadt ganz gut verortet.“ Beim MTV Stuttgart, bei dem 4100 Kinder und Jugendliche Sport treiben, arbeiten 250 lizenzierte Trainer und Übungsleiter. „Wir setzen das Thema in der gesamten Breite um“, sagt die stellvertretende Geschäftsführerin Birgit Janik. Es gibt einen Schutzbeauftragten, polizeiliche Führungszeugnisse sind Pflicht, den Ehrenkodex unterschreiben alle, die regelmäßig mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Beim Turnerbund Cannstatt trainieren regelmäßig rund 400 Kinder. Turn-Abteilungsleiterin Anneliese Schick sagt: „Bei uns ist noch nie was passiert, und ich hoffe, dass sich das nie ändern wird.“ Ansonsten gibt sich die ehrenamtliche Funktionärin keinen Illusionen hin: „Wir stehen ja immer mit einem Bein im Knast.“

Tanja wurde übrigens, weil ihre Mutter darauf drängte, therapeutisch behandelt. Inzwischen hat sie selbst Familie, ihr beiden Kinder gehen gerne zum Sport. Tanja ist immer dabei. Als Trainerin.