Christina Applegate spielt eine Mutter zwischen Zynismus und Trotz. Foto: Saeed Adyani/Netflix

Erinnert sich noch wer an die Serienfigur Kelly Bundy? 22 Jahre nach ihrer Dumpfbackenrolle in „Eine schreckliche nette Familie“ kehrt Christina Applegate in der Netflix-Serie „Dead to me“ zurück.

Stuttgart - Das war knapp! Christina Applegate deren Karriere nach frühem Erfolg im Schlick drittklassiger TV-Formate zu enden drohte, muss beim nächsten Comeback-Versuch die niedersten Voyeursinstinkte bedienen, muss mit einer Sexszene einsteigen. So scheint es zumindest – bis die Kamera halsabwärts zoomt und die verwitwete Maklerin Jen nicht nackt bei der sexuellen Frustbewältigung, sondern sportbekleidet auf dem Hometrainer zeigt. Schwitzen gegen Einsamkeit statt Softporno mit Fremdschampotenzial – eben noch mal gut gegangen.

Nach dem Unfall

Fans erinnern sich gern an Applegates Durchbruch als laufender Blondinenwitz Kelly in „Eine schrecklich nette Familie“. Gut 20 Jahre nach dem letzten ihrer 259 Einsätze als Dumpfbacke muss man aber genau hinsehen, um den gealterten Teeniestar in der Netflix-Serie „Dead to me“ zu erkennen. Mit 47 spielt die Kalifornierin eine Frau, deren Mann bei einem Unfall mit Fahrerflucht verblutet ist. Als sie in einer Selbsthilfegruppe auf Judy (Linda Cardellini) trifft, die gleichfalls den Partner verloren hat, scheint sich eine heilsame Freundschaft zwischen den Schicksalsgenossinnen anzubahnen. Verteilt auf zehn Folgen, nimmt das allerdings zwei bemerkenswerte Wendungen.

Zum einen erweist sich Judys Eintritt in Jens’ zerrüttetes Leben als zweifache Mutter zwischen Zynismus und Trotz als keineswegs zufällig. Zum anderen zeigt Christina Applegate in Liz Feldmans schwarzhumorigem Melodram einen Tiefgang, den man ihr angesichts ihrer vorigen Rollen kaum zugetraut hätte. Wie so viele, die sehr jung sehr populär geworden sind, reproduzierte schließlich auch sie ab 1997 häufig bloß noch ihr eigenes Klischee. Daran konnte selbst solide Seriencomedy von „Samantha who?“ bis „Up all Night“ kaum rütteln.

Großfamilien der TV-Geschichte

Dennoch war Applegate – ein respektabler Ausflug auf den Broadway inklusive – stets gut im Geschäft. Was in einer visuellen Branche zwar alles andere als die Regel, aber auch keine Ausnahme ist; dafür muss man weder die Totalabstürze von Macaulay Culkin („Kevin allein zu Haus“) und Lindsay Lohan noch den steilen Aufstieg von Leonardo DiCaprio und Drew Barrymore („E.T.“)oder Moritz Bleibtreu zurate ziehen, der 1977 als renitenter Dorfjunge in „Neues aus Uhlenbusch“ zum Vorschein kam: Es reicht ein Blick in die Großfamilien der Fernsehgeschichte.

Während die Hälfte der Kinder der bettelarmen, aber vielköpfigen „Waltons“ bald nach dem Ende dieser TV-Legende anno 1981 auf Nimmerwiedersehen vom Set verschwand, sind John-Boy (Richard Thomas) und Mary-Ellen (Judy Norton-Taylor) bis jetzt gut gebucht. Ähnliches gilt für die „Bill Cosby Show“. Oder „Unsere kleine Farm“ (1974-1984), von der es Jason Bateman und Melissa Gilbert nach Hollywood schafften, der Rest hingegen eher in branchenfremde Jobs bis hin zur Physiotherapie. Früher Erfolg ist eben keine Einbahnstraße zum Starruhm, sondern oft auch eine Sackgasse, in der vorwiegend Kinderstars steckenbleiben.

Star oder Friseur?

Ob Tommi Ohrner, Silvia Seidel, Patrick Bach oder Hendrik Martz: die Hauptdarsteller der berühmten Weihnachtsmehrteiler haben es nur selten übers Vorabendtingeln hinausgebracht – von den Titelhelden tschechischer Filmklassiker oder Lindgren-Verfilmungen ganz zu schweigen. Oder hat irgendwer je wieder von Inger Nilsson (Pippi), Žaneta Fuchsová (Luzie) oder sagen wir: Omri Katz gehört? Ende der Achtziger galt J. R. Ewings Filmsohn kurz als hoffnungsvollster Jungschauspieler seines Jahrgangs. Und heute? Arbeitet er nach ein paar B-Movies als Friseur in L.A.

Ähnliches haben Spötter auch von Christina Applegate erwartet. Doch wenn sie nun in „Dead to Me“ vor glaubhafter Verzweiflung zum Heulen aufs Klo geht, den Hometrainer traktiert oder willkürlich Unfallautos überprüft, zeigt die Schauspielertochter nach mehr als 45 Jahren vor der Kamera, dass jedes Klischee besiegbar ist – selbst ein wandelnder Blondinenwitz.

Verfügbarkeit: Beim Streamingdienst Netflix, alle Folgen ab 3. Mai 2019 abrufbar.