Die Richter 4. Zivilsenat des Stuttgarter Oberlandesgerichtes beschäftigen sich mit den Grenzen dessen, was Menschen in sozialen und althergebrachten Medien in die Welt kübeln – meist unter dem Motto „das wird man ja wohl noch sagen dürfen“.
Vergangene Woche griffen Stuttgarts Polizisten zu einem ungewöhnlichen Mittel: Sie ließen eine künstliche Intelligenz einen Schlager schreiben. Dessen Inhalt: Hasstexte und beleidigende Kurznachrichten, mit denen die Beamtinnen und Beamten in sozialen Medien überzogen wurden und werden: „Hass im Netz ist leider Alltag – für uns als Polizei & viele andere. Wir haben aus unseren Hasskommentaren mal mit KI ein Lied erstellt. Unsere Botschaft: Lasst euch NIEMALS unterkriegen!“, unterschrieben die Polizisten das Lied.
Ihr eindringlicher Hinweis war außerdem, solche Äußerungen nicht hinzunehmen. Und damit kommen die drei Richterinnen und drei Richter des 4. Zivilsenats des Stuttgarter Oberlandesgerichts ins Spiel. Denn: Die sechs Juristen sind auch spezialisiert auf das sogenannte Äußerungsrecht. „Jeder Mensch hat das Recht, Meinungen und Tatsachenbehauptungen zu äußern. Dieses Grundrecht ist durch die Meinungsfreiheit geschützt, die in Artikel 5 des Grundgesetzes verankert ist“, erklärt Markus Geßler, der Vorsitzende Richter des Gremiums. Aber, ergänzt sein Stellvertreter Stefan Schüler, „es gibt für die Meinungsfreiheit nicht nur straf-, sondern auch zivilrechtliche Grenzen. Diese leiten sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Gegenübers und Regelungen im Bürgerlichen Gesetzbuch ab“.
Bevor Klagen auf den Schreibtischen des Sextetts im Oberlandesgericht landen, hat ein Kläger bereits das Landgericht mit der Äußerung beschäftigt, die er für unzulässig hält. Dabei geht es nicht – wie im Strafrecht – darum, dass der Beklagte für seine Äußerung bestraft wird. Sondern es geht im Wesentlichen um zwei Dinge: Dass er die Äußerung nicht wiederholt. Tut der Beklagte es doch, droht ihm ein hohes Ordnungsgeld oder auch -haft . Und zweitens geht es darum, dass die Richter prüfen, ob dem Kläger wegen ehrverletzender Äußerungen möglicherweise ein Schmerzensgeld zusteht. „Dafür schauen wir uns genau an, wo die Meinungsfreiheit ihre Grenzen hat und der Schutz des Einzelnen überwiegt“, sagt Geßler.
So beschäftigte den Senat ein Hasskommentar gegen die ehemalige Staatssekretärin des Berliner Senats. „Selten so ein dämliches Stück Hirn-Vakuum in der Politik gesehen wie Sawsan Chebli“, schrieb ein Facebook-Nutzer. Die Politikerin hatte in einem vorangegangenen Post den Kabarettisten Dieter Nuhr scharf kritisiert. Chebli wehrte sich, allerdings zunächst erfolglos. Das Landgericht Heilbronn urteilte, der Post sei jedenfalls noch von der Meinungsfreiheit gedeckt.
Ein Urteil, mit dem Chebli nicht leben wollte – und deswegen in Berufung vor das Oberlandesgericht in der Landeshauptstadt zog, wo sich Markus Geßler und seine Kollegen mit den Grenzen dessen auseinandersetzen müssen, was – wie viele glauben – „man ja wohl noch sagen darf“. Der Senat, sagt Stefan Schüler, „arbeitet damit unmittelbar an zentralen Artikeln unseres Grundgesetzes“. Diese Artikel bilden das Fundament des deutschen Verfassungsstaates. Sie schreiben die grundlegenden Rechte und Prinzipien fest, die unerlässlich sind, damit die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die Grundlage, auf der die Menschen in Deutschland zusammenleben, funktioniert. Diese Grundrechte binden Abgeordnete, Minister und Polizisten, aber auch Richter und Staatsanwälte und bestimmen den Rahmen, in dem sie alle entscheiden.
Insofern „ist das wissenschaftliche Arbeit, die wir leisten“ sagt Richterin Carmen Fischer. Denn: Zum einen orientieren sich die Juristen im 4. Zivilsenat an den Artikeln des Grundgesetzes Dann aber auch an „den Leitlinien, die uns das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof an die Hand geben. Unsere Entscheidungen orientieren sich an den Regeln, die in den höchstrichterlichen Entscheidungen der vergangenen Jahrzehnte gefunden wurden“, vervollständigt Stefan Schüler. Und definiert damit die Leitplanken, zwischen denen sich die freie Meinungsäußerung bewegt. Wo sich die Richter fragen: erniedrigt eine Meinung einen Menschen, wertet sie ihn ab, verletzt sie seine Würde? Beschreibt der Verfasser einer Veröffentlichung in den sozialen wie den althergebrachten Medien Tatsachen, die objektiv überprüfbar sind? Wo vermischen sich Schmähkritik und Tatsachenbehauptungen?
Unter Schmähkritik verstehen die Richter Äußerungen, die zuvorderst darauf zielen, einen Menschen herabzusetzen und nicht auf eine sachliche Auseinandersetzung zielen. Bei der im Vordergrund steht, einen anderen zu diffamieren und ihn zu kränken.
„Wir schauen uns Äußerungen im Spannungsverhältnis zwischen der Meinungsfreiheit und dem Schutz der Ehre oder der Privatsphäre einer Person genau an“, sagt Geßler. Er grenzt ab. Dass selbst scharfe, polemische oder überzogene Kritik an öffentlichen Personen oder politischen Sachverhalten erlaubt ist. Die Freiheit der Meinung, sagt er, „kann bis an die Grenze gehen, die man selbst kaum noch erträgt“. Dabei wissen die Richter, „dass wir sehr wohl Meinungsäußerungen zulassen, die die Welt nun wirklich nicht braucht. Aber wir entscheiden nicht über Geschmack und Selbstachtung.“ Hingegen lassen sie Schmähkritik oder reine Verunglimpfung ohne sachlichen Bezug nicht zu. „Gesetzgebung und die Rechtsprechung geben uns auf, zwischen diesen beiden Polen abzuwägen“, sagt Schüler. Mit Erfolg für Chebli, die nach dem Berufungsurteil des 4. Zivilsenats die Bezeichnung als „dämliches Stück Hirn-Vakuum“ nicht hinnehmen muss.