Der Seniorensportler Siegfried Greiner trainiert fünf- bis sechsmal in der Woche Foto: Ines Rudel/Ines Rudel

Ein Thema, zwei Welten: der Seniorensportler aus Nürtingen und die Patienten der Geriatrischen Klinik in Ostfildern.

Nürtingen/Esslingen - Ein sonniger Herbstmorgen auf der Neckarau. Siegfried Greiner packt den Hammer aus. Der 71 Jahre alte Seniorensportler will auf dem Sportplatz der TG Nürtingen noch eine kleine Trainingseinheit einschieben, bevor der nächste Wettkampf ansteht. Aufwärmen, zehn bis 15 Mal das vier Kilogramm schweren Wurfgerät in den blauen Himmel schleudern, anschließend Gewichte stemmen im Kraftraum. Wenn Siegfried Greiner es darauf anlegte, würde er im Bankdrücken noch so an die 100 Kilogramm nach oben wuchten. Trotzdem ist der Sportler nicht ganz zufrieden mit sich. „Wegen Corona hat es zuletzt kaum Wettkämpfe gegeben. Da baut man ab, trotz des Trainings“, sagt er.

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Ortswechsel. Ein Krankenzimmer in der Medius Klinik in Ostfildern-Ruit. Andrej Zeyfang ist sehr zufrieden mit seinem Patienten. Der ist 83 Jahre alt und schafft es drei Mal am Stück, das elastische Theraband auseinanderzuziehen. „Und noch einmal. Toll gemacht“, lobt der Arzt. Zeyfang ist Chefarzt und Leiter der Klinik für Innere Medizin, Altersmedizin, Diabetologie und Palliativmedizin. Seine Patienten sind im Durchschnitt 87 Jahre alt. Sie nähern sich dem Thema „Muskeltraining im Alter“ von der anderen Seite. Geht es Siegfried Greiner um Titel und Bestweiten, geht es ihnen darum, von Andrej Zeyfang und seinem Team wieder in die Lage versetzt zu werden, den Alltag aufrecht zu bestehen. Ist das Training für Greiner ein Hobby, ist es für sie (über)lebensnotwendig.

Muskeln schützen vor Stürzen

„Der Mangel an Muskelmasse ist eines der häufigsten Probleme, mit denen wir in der Altersmedizin konfrontiert werden“, sagt Zeyfang. „ Haut- und Knochenpatienten“ sagen die Mediziner dazu, wenn sie unter sich sind. Eine gut ausgebildete Muskulatur ist nicht nur in der Diabetesvorbeugung, für den Hormonhaushalt, für die Fettverbrennung und ganz allgemein für das Funktionieren des Bewegungsapparats von großer Bedeutung, sondern sie schützt auch vor Stürzen und Sturzfolgen.

„Die höchsten Kraftwerte messen wir bei den 30-Jährigen. Danach beginnt der natürliche Abbau“, sagt Zeyfang. Zweieinhalb Stunden Bewegung pro Woche genügten allerdings schon, um den Prozess entscheidend zu verlangsamen. Die beste Altersspanne, um in das systematische Muskeltraining einzusteigen, sind Zeyfangs Erfahrungen zufolge die mittleren Lebensjahre vom 50. Geburtstag an. Von der 10 000 Schritte-Regel, auf die viele Fitness-Uhren geeicht sind, hält der Mediziner nichts. „Das hat mal einer in die Welt gesetzt und die anderen haben abgeschrieben. 5000 bis 7000 Schritte am Tag genügen auch“, sagt er. Wichtig sei allerdings, darauf zu achten, dass man zumindest leicht außer Atem kommt.

Siegfried Greiner macht seit mehr als 50 Jahren Sport. Er kommt häufig außer Atem. Er trainiert fünf bis sechs Mal pro Woche auf dem Sportplatz und im Kraftraum. „Ich will die Grenzen meiner Leistungsfähigkeit ausloten“, sagt der frühere Sport- und Techniklehrer, zu seiner Motivation befragt. Die Grenzerfahrung hat ihm immerhin einen dritten Platz bei den Senioren-Weltmeisterschaft in seiner Paradedisziplin, dem Diskuswerfen eingebracht. Dazu noch eine ganze Reihe internationalen Spitzenplätzen und nationalen Titeln in den verschiedenen Wurfdisziplinen und im Rasenkraftsport.

„Wir versuchen in der Klinik, die Patienten zur Eigeninitiative zu ermuntern“ , sagt Zeyfang. Die Gleichung ist einfach: Wer im Bett bleibt, wird bettlägerig. Wer sich bewegt, hat gute Chancen, ins Leben zurückzukehren. Im Klinikalltag gibt es eine Faustregel. Für jeden Tag im Bett braucht es drei Tage intensiver Arbeit, um den Verlust an Kraft, Koordination und Ausdauer auszugleichen.

Meist auch Fehl- und Mangelernährung

Erschwerend kommt hinzu, dass bei vielen Patienten der Muskelschwund mit einer Fehl- oder Mangelernährung einhergeht. Wie das Verhältnis zwischen Muskelmasse, Fett und Wassereinlagerung ist, können die Ärztinnen und Ärzte an der Ostfilderner Klinik mit Hilfe der computergestützten Analyse der Körperzusammensetzung herauslesen. So sehen sie, wo es im Zusammenspiel der Kräfte klemmt und wo der Hebel angesetzt werden muss.

Wenn es bei Siegfried Greiner klemmt und er das Gefühl hat, dass es im Wurfring oder an den Gewichten nicht rund läuft, dann nimmt er einen Gang raus. „Wenn ich merke, jetzt ist genug, dann packe ich meine Sachen zusammen. Dann gehe ich lieber ein Bier trinken“, sagt er.

„Ein zehnwöchiges gezieltes Training, wie wir es hier machen, bringt eine deutliche Verbesserung der Alltagsperformance“, sagt Zeyfang, der in den vergangenen Jahren Studienleiter zweier von der Europäischen Union geförderten Studien zur Schulung und Behandlung, aber auch zur Prävention von Gebrechlichkeit und anderer Probleme bei älteren Menschen mit Diabetes war. Das Ziel der Arbeit mit den Patienten sei die Wiederherstellung der Alltagstauglichkeit. „Sie sollen zu Hause wieder zurechtkommen Wir wollen vermeiden, dass sie pflegebedürftig werden“, sagt Zeyfang.

Auch Siegfried Greiner hat ein Ziel. „Ich möchte mit 90 Jahren noch im Hammerwurfring stehen. Das wäre ein Traum, denn dann hätte ich alles richtig gemacht“, sagt er. Zeyfangs Patienten dagegen planen von Tag zu Tag. Für sie wäre es schon ein Traum, sie könnten einmal überhaupt wieder stehen.