Ganze 100 Millionen Deutsche Mark hat sie gekostet, die architektonisch anspruchsvolle Endhaltestelle Gerlingen. Foto: Nadine Funck

20.000 Einwohner, 8.000 Arbeitsplätze und eine Stadtbahn-Endhaltestelle für nicht weniger als 100 Millionen Deutsche Mark: Die Stadt Gerlingen ist längst mehr als nur ländliches Idyll.

Gerlingen - Leer und ruhig ist es um 8.30 Uhr in der U6 in Richtung Gerlingen. Während in der entgegenkommenden Bahn in Richtung Möhringen, Stadtnomaden, Aktentaschenträger und Ausflugslustige Schulter an Schulter nebeneinander stehen, ist die Bahn in Richtung Gerlingen nur spärlich besetzt. 27 Minuten dauert es, bis man vom Stuttgarter Hauptbahnhof mit der U6 nach Gerlingen gelangt, 51 Minuten und 40 Haltestellen von dort an das andere Ende der Linie, dem Fasanenhof.

Die Bahn zieht auf ihrem Weg nach Gerlingen vorbei an imposanten Geschäftsgebäuden an der Löwentorbrücke, lärmenden Straßen am Pragsattel, dem Wochenmarkt am Löwenmarkt und dem Schloss Solitude, auf das man von der Raststatter Straße aus einen Blick erhaschen kann. Je näher das Ziel, die Endstation, desto grüner und wohnlicher erscheint die Umgebung.

Genau das ist es, was Stadtbahnfahrer Julius Janjic an dieser Strecke schätzt. Er lebt seit 1975 in Stuttgart, arbeitet seit 28 Jahren bei der SSB und fährt an diesem Morgen der Pfingstferien die Stadtbahn der U6 in Richtung Gerlingen: „Die Strecke ist etwas Besonderes. Der größte Teil ist oberirdisch gebaut, sodass man mitten durch die Stadt hindurch fährt und ab dem Pragsattel dann die schöne Landschaft genießen kann.“ Gerlingen selbst kannte er schon damals, als die Stadtbahn noch durch den Stadtkern fuhr. „Damals war es hier etwas bäuerlich, heute erscheint mir die Haltestelle sehr modern“, fügt er hinzu.

Moderne Architektur kontrastiert ländliche Idylle

Tatsächlich. Bei einem Blick aus der Stadtbahn hinaus auf das Gebilde dieser Endstation wird schnell klar, was gemeint ist, wenn es heißt, dass in Gerlingen das Geld sitze. Das Urbane, der wirkungsträchtige Einfluss durch die Nähe zu Stuttgart, spiegelt sich hier deutlich in der Architektur der Endstation selbst sowie in den umliegenden Gebäuden deutlich wider. Anders als viele andere Endstationen, ist diese hier unterirdisch einlaufend, offen gestaltet, mit zahlreichen Elementen aus Stein, Glas und unbehandelten Betonwänden. Die Rolltreppe, die sich direkt vor den Stadtbahnen erstreckt und hinauf zur ebenso anschaulichen und darüber hinaus preisgekrönten Stadtbibliothek (1998 erhielt Architekt Prof. Hans Klumpp für dieses Werk den Architekturpreis des Klempnerhandwerks) führt, lädt zu einer weiteren Erkundungstour ein. „Wer hier aussteigt“, so Janjic, „der befindet sich direkt im Gerlinger Zentrum.“

Im Zentrum herrscht an diesem Ferienmorgen zunächst einmal nur Totenstille. Einzig zu hören: Das leise Motorengeräusch der Stadtbahnen, das Plätschern eines Wasserspiels und das ungestörte Zwitschern der Vögel. Gerlingen - Ein Idyll? „Ohne Stuttgart wollte ich nicht in Gerlingen leben“, erklärt die 63-jährige Gerda Eid, die vor acht Jahren nach Gerlingen gezogen ist, früher aber selbst einmal in Stuttgart gelebt hat. Sie schätze zwar die Symbiose aus Land und Stadt, über den Stadtbahnanschluss aber sei sie sehr froh. „Für mich bedeutet diese Stadtbahn Freiheit.“

Wirtschaftlicher Wohlstand, der sichtbar ist

Inzwischen zählt die Gemeinde Gerlingen, zu der auch die Stadtteile Gehenbühl und Schillerhöhe gehören, rund 20.000 Einwohner. Sie ist der südlichste Zipfel des Landkreises Ludwigsburg. Halbhöhenlage, Wälder und dennoch eine gute Anbindung an Stuttgart stellen hier für viele einen Reiz dar, aber auch der wirtschaftliche Aspekt spielt eine bedeutende Rolle. Sitzen hier in nächster Nähe doch namhafte Firmen wie Bosch an der Schillerhöhe, Thales und Trumpf in Ditzingen. Mit unverkennbarem Stolz erklärt Georg Brenner, der Bürgermeister Gerlingens: „Wir sind ein wirtschaftlich sehr potenter Ort. In Gerlingen selbst haben wir inzwischen 8.000 Arbeitsplätze. Bei einer Einwohnerzahl von knapp 20.000 Bürgern – eine beachtliche Zahl, finden Sie nicht?“

Wirtschaftlicher Wohlstand, der sich auch auf dem Weg in die Innenstadt deutlich abzeichnet. Auf dem Weg von der Stadtbahn zum Rathausplatz gelangt man vorbei an Reformhäusern, Feinkost Metzgereien, Interior Geschäften, Blumengeschäften und Cafés, in denen an diesem Morgen noch gähnende Leere herrscht. Man begegnet Omas und Opas, die mit ihren Enkelkindern an der Hand durch die Straßen schlendern, Geschäftsmännern in Anzug und Krawatte und teuren Autos, jungen Müttern und Rentnern auf dem Weg zum Einkaufen. Brenner selbst nennt das eine wertvolle Symbiose aus Arbeiten, Wohnen und Leben, die man in der Gerlinger Innenstadt deutlich spüre.

Auch die 80-jährige Ingeborg Legler, die bereits seit 1957 in Gerlingen lebt, ist mit einem Einkaufskorb unter dem Arm geklemmt in der Innenstadt unterwegs. Was das Schöne an Gerlingen sei? Sie zieht die rechte Schulter nach oben, macht eine beschwichtigende Geste mit ihrer Hand und setzt einen ernsten Blick auf: „Als wir hier hergezogen sind, war es das Ruhige, das Familiäre, was uns an Gerlingen so gefallen hat. Es war warm hier. Heute aber ist Gerlingen groß und kalt geworden.“ Just in diesem Moment, entdeckt Legler eine Bekannte, die gerade im Begriff ist, die Straße zu überqueren. Sie hebt den linken Arm und winkt ihr grüßend zu, ein Strahlen breitet sich auf ihrem Gesicht aus.

Zwischen Zukunft und Vergangenheit

Wieder zurück auf dem Weg in Richtung Rathausplatz eilt der Postbote schnellen Schrittes von Briefkasten zu Briefkasten. Er hat es eilig und scheint damit an diesem Morgen der Einzige in Gerlingen zu sein, dem es so ergeht. Als Postbote, so möchte man annehmen, müsste er doch eigentlich gut wissen, wo es in Gerlingen denn besonders schön sei. Auf die Frage hin blickt er peinlich berührt auf einen Stapel Briefe in seinen Händen. So richtige Sehenswürdigkeiten, gibt er zu, würde er in Gerlingen nicht kennen. Der Brunnen am Rathausplatz aber sei sehr sehenswert.

Auf dem Weg zu eben jenem Brunnen geht man vorbei an einer Fahrschule neben einer Sozialstation für Altenpflege, an einer Kinderzahnarztpraxis neben einem Antiquitäten- und Raritätengeschäft und vorbei an einer Parfümerie neben einem alten Gebäude, das Landluft versprüht und an Urlaube auf dem Bauernhof erinnert. Jugend neben Alter, Moderne neben Vergangenheit. Ein eben solches Abbild stellt auch besagter Brunnen dar. Zur linken Seite findet sich das schöne Alte Rathaus, zu seiner rechten klafft ein große Baugrube: Platz für Neues. Bei genauerer Betrachtung scheint sich das durch das gesamte Stadtbild hindurch zu ziehen.

Eine Endhaltestelle für 100 Millionen Deutsche Mark

An den Charme der alten, historischen Gebäude schmiegen sich in Gerlingen neue, architektonisch anspruchsvolle Gebilde. Deutlich erkennbar wird das aber nicht nur an dem Alten Rathaus auf dem neuen Rathausplatz, sondern etwa auch an besagter Endhaltestelle selbst. Sie wurde am 30. Juni 1997 zum 1200. Jubiläum der Stadt Gerlingen eingeweiht und wurde an diesem feierlichen Tag um 17 Uhr das erste Mal befahren. Insgesamt kostete der Bau der Endhaltestelle 100 Millionen Deutsche Mark.

„Die Bahn ist sehr stark frequentiert, das merken wir hier sehr“, weiß auch Brigitte Meier, die gemeinsam mit ihrer Tochter Anja, im Gerlinger Weltladen arbeitet, der direkt an den Platz vor der Stadtbahnhaltestelle grenzt. „Aus diesem Grund haben wir die Öffnungszeiten auch durchgehend gehalten - anders als viele andere Geschäfte in Gerlingen.“ So würden hier täglich Menschen vorbeigehen, vor der Bahnreise einen Coffee to go holen oder sich die Zeit zwischen fairgehandelter Schokolade und handgefertigtem Schmuck vertreiben.

Der typische Gerlinger aber, weiß ihre 27-jährige Tochter, sei naturverbunden, ihn ziehe es in die Natur. Schillerhöhe, Schloss Solitude und angrenzende Wälder würden hierfür den idealen Ausgangspunkt bieten: „Man hat hier die Ruhe, aber man hat auch die Möglichkeit, in die Stadt zu fahren.“ Auch Claudia Müller arbeitet im Weltladen und schätzt das Leben in Gerlingen: „Als unsere Kinder noch kleiner waren, konnten sie hier alles zu Fuß erreichen. Als Mutter musste ich deshalb nie Taxi spielen.“ Alle drei lachen.

Kunst am Bau, die zum Innehalten ermahnt

Dass es als Jugendlicher dennoch aber mitunter langweilig werden kann in einer solchen idyllischen Vorstadt, das weiß auch der 24-jährige Dominik Hahn, der seit jeher in Gerlingen lebt. „Wenn mal keine Veranstaltungen sind, ist es eigentlich recht öde. Aber das ist ja bekanntlich Ansichtssache.“ Wer aber dennoch jede Woche Action haben wolle, der gehe dafür in die Stadt, denn dank der Stadtbahn komme man ja überall recht gut hin. Ähnlich scheint das auch der Bürgermeister selbst zu sehen, der zugibt, dass bei all der Lebensqualität in Gerlingen, doch ab und an auch ein Ausflug in die Großstadt anstehe: „Natürlich gehen wir, um den großen kulturellen Genuss zu erleben, ins Staatstheater oder für das große Einkaufsvergnügen in die Einkaufszentren.“

Zurück an der Stadtbahnhaltestelle herrscht inzwischen reges, angenehmes Treiben. Im Café Exlibris wurden bereits die Sonnenschirme aufgespannt und die ersten Gäste genießen die wärmende Morgensonne. Unweit davon prangen an den kahlen, modernen Betonmauern der Haltestelle in schwarzen Druckbuchstaben die Worte „Zeitraum“ und „Zeitzeugen“. Brenner nennt es „Kunst am Bau“ und führt die Idee auf die Künstlerin Ulrike Böhme zurück, die während der Baumaßnahmen anlässlich des Jubiläums an diesem Ort das Projekt „Zeichen der Zeit“ ins Leben gerufen habe. Ein Zeichen der Zeit, ein Zeitraum, scheint diese Endstation allemal zu sein. Sie ist es schon allein deshalb, weil sie ein Ort des Ankommens in der ruhigen, ländlichen Heimat darstellt, zugleich aber auch ein Ort des Ausschwärmens in die aufregende, lärmende Großstadt ist, in der die Zeit viel schneller zu vergehen scheint, als hier.

Es wird also kein Zufall sein, dass ausgerechnet an dieser Stadtbahnhaltestelle, die für die Gerlinger ein Stückchen Freiheit darzustellen scheint, zum Innehalten erinnert wird. Und während die Menschen in diesem Moment zur Stadtbahn eilen, leuchten an diesem Ort auf Spiegeltafeln neben den schwarzen, mahnenden Druckbuchstaben die Worte: Die Zeit teilt, heilt, eilt.