Der Alltag mit seiner Schwester kann ganz schön anstrengend sein, sagt Mika. Aber er liebt seine Enni abgöttisch. Foto: Simon Granville

Die sechsjährige Enni hat einen Gendefekt. Eine Diagnose, die für Familie Schuster aus Erdmannhausen alles verändert hat: Wie ist das Leben mit einem Kind, das extrem viel Betreuung braucht? Und was bedeutet es für ihren zwei Jahre älteren Bruder?

Ihr Lächeln ist einnehmend. Auch ihrer Präsenz kann man sich kaum entziehen. Enni ist ein Wirbelwind. Die Sechsjährige hüpft übermütig durch die Wohnung, zieht ihren Bruder mit sich und macht ihm auch ohne Worte klar, auf was sie jetzt Lust hat. Enni hält sich die Hand vors Gesicht und Mika weiß genau: Die kleine Schwester möchte verstecken spielen. Und zwar jetzt.

 

Ihre Wünsche teilt die Sechsjährige in Lauten oder nonverbal mit. Enni leidet an einer sehr seltenen Krankheit, dem Angelman Syndrom. Nur 50 Kinder werden jedes Jahr in Deutschland mit diesem Syndrom geboren. Der Gendefekt wird oft erst nach dem ersten Lebensjahr erkannt.

Neugeborene schien gesund und munter

Die Schwangerschaft war unauffällig, erinnert sich Britt Schuster. Enni musste zwar mit einem Notkaiserschnitt auf die Welt geholt werden, aber die Neugeborene schien gesund und munter. Als die Tochter sechs Monate alt wird, nehmen die Eltern zwar wahr, dass sie sich noch nicht drehen kann. „Aber wir witzelten darüber. So nach dem Motto, die kleine Maus ist halt faul.“

Britt Schuster beim Vorlesen. Tochter Enni hält meist nicht lange still. Foto: Simon Granville

Mit der Zeit werden die Entwicklungsverzögerungen aber immer deutlicher. Britt Schuster spricht den Kinderarzt an. Immer wieder. Doch der beruhigt und verweist auf Entwicklungstabellen. „Und da war Enni noch innerhalb der Toleranzgrenze.“

Corona verzögert Untersuchungenüber Monate

Doch die Eltern spüren, dass etwas nicht stimmt und fühlen sich immer weniger ernstgenommen. Im Dezember 2019 drängen Britt und Martin Schuster auf einen Termin im Soziopädiatrischen Zentrum (SPZ) in Ludwigsburg. Ende Januar kommt auch der Kinderarzt zu dem Schluss, dass etwas auffällig ist. Im SPZ werden die Sorgen der Eltern bestätigt. „Man sagte uns, dass Enni nicht auf dem Stand eines 1,5 Jahre alten Kindes, sondern auf dem eines neun Monate alten Babys ist.“ Dann kommt Corona, alle Termine werden abgesagt, es dauert Monate bis Untersuchungen gemacht werden. Augen, Ohren werden gecheckt, beim Neurologen wird ein EEG geschrieben. Zwischendurch keimt immer wieder die Hoffnung auf, dass Enni vielleicht doch an einer Stoffwechselerkrankung leidet, die man medikamentös behandeln kann.

Doch Martin Schuster findet keine Ruhe und klickt sich durchs Netz. Vergleicht Symptome, liest Erfahrungsberichte, quält sich durch medizinische Analysen. „Und dann zeigte er mir Bilder und sagte, dass unsere Tochter das Angelman Syndrom hat“, erinnert sich Britt Schuster. Die 36-Jährige will die Diagnose ihres Mannes anfangs nicht wahrhaben. Winkt ab. Doch Martin Schuster lässt nicht locker und drängt beim Kinderneurologen auf einen Bluttest, der Gewissheit bringen soll.

Diagnose zieht den Boden unter den Füßen weg

Die gefürchtete Gewissheit erreicht das Paar am 25. Mai 2020 morgens um 9 Uhr, gut einen Monat vor Ennis zweiten Geburtstag. „Wir wussten ja, dass irgendwas ist, aber auf so eine endgültige Diagnose kann man sich dennoch nicht einstellen“, sagt die 36-Jährige. „Es hat mir komplett den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich war wie in einer Schockstarre, dann flossen viele Tränen und natürlich kamen dann viele Gedanken über die Zukunft.“

Heute, viereinhalb Jahre später, hat sich der Alltag der Familie eingespielt. Und doch ist jeder Tag eine Herausforderung. Seit Sommer geht Enni in die Paul-Aldinger-Schule nach Kleinbottwar. Motorisch ist die Sechsjährige erstaunlich fit. Sie rennt durch die Wohnung, klettert gern und fährt auch Laufrad. Aber nur solange sie Lust hat. Deshalb gehen die Schusters nicht ohne Reha-Buggy aus dem Haus. „Wenn sie nicht mehr mag, setzt sie sich einfach auf den Boden und es geht gar nichts mehr“, erzählt die Mutter. Kinder mit Angelman Syndrom haben zwar eine normale Lebenserwartung. „Aber Enni wird ihr ganzes Leben auf dem Stand eines Kleinkindes bleiben.“

Mikas Spruch für den Dezember. „Enni ist ein Energiebündel, das uns mit viel Liebe und Chaos auf Trab hält.“ Foto: Simon Granville

Die Nächte sind anstrengend. Zwischen Mitternacht und 1 Uhr wird Enni das erste Mal wach. In der Regel passiert das vier- bis acht Mal in der Nacht. Seit kurzem schläft Britt Schuster bei der Tochter. „Wenn ich gleich da bin, wird sie schneller ruhig – das ist besser für uns alle.“

Auch für Bruder Mika, den Enni „Gaga“ nennt. Der Achtjährige liebt seine Schwester abgöttisch – aber er braucht auch Zeit für sich. Nicht nur in der Nacht. An seiner Zimmertüre ist ein Gitter angebracht. Das verhindert, dass der Wirbelwind beim Hausaufgaben machen stört, Spielsachen durcheinanderbringt oder seine Süßigkeitenschublade plündert.

Enni kratzt, wenn etwas nicht nach ihrem Willen geht

Die Geschwister sind, was die Kommunikation angeht, ein eingespieltes Team. Mika weiß, dass seine Schwester gerne Quatsch mit ihm macht und am liebsten die ganze Zeit spielen würde. Ignoriert er ihre Wünsche, verleiht Enni ihnen Nachdruck, indem sie an den Haaren zieht, oder kratzt. „Das nervt“, sagt Mika. Und besonders nervt es den Achtjährigen, wenn auch seine Freunde gekratzt oder gezogen werden.

Dass seine Eltern selten etwas mit ihm und seiner Schwester als Familie zusammen machen können, hat Mika akzeptiert. Mama kümmert sich vor allem um Enni, Papa vor allem um ihn. „Das ist okay“, sagt er und schaut seine Mama mit einem liebevollen Lächeln an.

Mehr als okay war für Mika sein erster richtiger Modeljob. Für den Jahreskalender 2025 des Angelman Vereins ließ sich der smarte Achtjährige in einem Fotostudio ablichten. Der Verein wurde 1993 gegründet und ist ein Selbsthilfeverein von Eltern für Eltern, deren Kinder mit dem Angelman-Syndrom geboren wurden. Die jüngste Initiative stellt die Geschwister von Betroffenen in den Fokus. Stille Helden, die jeden Tag mit Mut und Liebe meistern. Stille Helden wie Mika.

Warum Angelman Syndrom?

Entstehung
Harry Angelman, englischer Kinderarzt mit dem Spezialgebiet Neurologie, beschrieb das Syndrom erstmals in einem 1965 veröffentlichten Artikel. Er hatte drei Kinder mit ähnlichen Merkmalen beobachtet: ungewöhnlich fröhliches Lachen, starke psychische Verzögerung, keine Sprachentwicklung, ein marionettenartiger Gang, Anfallsleiden und ähnliche Gesichtserscheinungen. Er nannte diese Störung zunächst „Happy Puppet Syndrome“, nachdem er in einem italienischen Museum ein Gemälde von Gian Francesco Caroto aus dem 17. Jahrhundert gesehen hatte, das einen lachenden Jungen mit einer Marionette zeigt. Der Name wurde später in Angelman-Syndrom geändert.

Symptome
80 Prozent der Menschen mit Angelman-Syndrom leiden irgendwann in ihrem Leben an Epilepsie. Außerdem haben die Betroffenen unter anderem ein vermindertes Schmerzempfinden und auch kein Sättigungsgefühl.