Die Hoffnungslosigkeit bis zur Todessehnsucht trifft Junge genauso wie Alte. Foto: dpa

Ein Arbeitskreis hilft Selbstmordgefährdeten. Für den Landkreis Böblingen ist der Dienst am Nächsten kostenlos. Ihn leisten zehn ehrenamtliche Helfer.

Böblingen - Im vergangenen Herbst, erzählt Herbert Neumann, „saß ich bei schönstem Wetter in der Sonne und habe geweint“. Äußerlich ist Neumann eine stattliche Gestalt, kräftig gebaut, über dem Gürtel wölbt sich ein Wohlstandsbauch. Innerlich dreht sich in ihm ein Strudel, der sein Hirn in hoffnungslose Schwärze zu ziehen versucht. Die plötzlichen Tränen „waren für mich nichts ganz Neues“, sagt er.

Das Ganz ist zu streichen. Schon fünf Jahre zuvor war Neumann erstmals in psychiatrischer Behandlung, wegen Selbstmordgefahr. Damit ist er keineswegs allein. Der Selbstmord ist unter jungen Erwachsenen die dritthäufigste Todesursache. Im Alter steigt die Gefahr ebenfalls stark. Unter denjenigen, die ihr Leben selbst beenden, „sind fast 40 Prozent älter als 60 Jahre“, sagt Michael Reuber. Er arbeitet als Oberarzt im psychiatrischen Behandlungszentrum Böblingen. Das nimmt wöchentlich ein bis zwei Patienten auf, die derart selbstmordgefährdet sind, dass das Personal sie nahezu ständig überwacht – im vergangenen Jahr in einem Fall vergebens. Die Mehrzahl derjenigen, die sich tatsächlich das Leben nehmen, ist psychisch krank und war schon einmal in Behandlung. Allerdings „sind die Ursachen sehr vielfältig“, sagt Reuber. Eine erkleckliche Zahl der Fälle geht sogar auf einen weit verbreiteten Kummertöter zurück: Alkohol.

Jährlich melden sich mehr als 60 Menschen, die an Selbstmord denken

„Mir hat letztlich ein Zettel geholfen“, sagt Neumann, dessen tatsächlicher Name ein anderer ist. Er möchte ihn nicht in der Zeitung lesen. Auf dem Zettel stand die Telefonnummer des Arbeitskreises Leben. Mit dessen Vorsitzendem, Matthias Steinmann, spielt Neumann seither einmal wöchentlich Billard. Vor allem aber spricht er zwischen den Stößen darüber, was er denkt und fühlt. Derlei Gespräche „sind schon sehr belastend“, sagt Steinmann. Er muss es wissen. 40 Jahre lang arbeitete er als Seelsorger. Vor 30 Jahren wurde der Arbeitskreis Leben gegründet. Wie viele Leben er seither rettete, ist Ansichtssache. Fest steht: Jährlich melden sich mehr als 60 Menschen, die zumindest an Selbstmord denken. Manche beruhigen schon einige Telefongespräche. Andere werden monate-, sogar jahrelang betreut.

Die Besonderheit daran ist, dass der Landkreis Böblingen diesen Dienst am Nächsten nahezu kostenlos bekommt, für 5000 Euro pro Jahr. Die zehn Mitarbeiter des Arbeitskreises sind allesamt Ehrenamtler. Der Zuschuss wird nahezu ausschließlich für die gleichsam überlebensnotwendige Schulung der Helfer ausgegeben. Dass hauptamtliche Hilfe nötig wäre, steht außer Zweifel. Zehn solcher Kreise sind im Landesverband zusammengeschlossen. Acht von ihnen leiten bezahlte Kräfte. Was die Böblinger zwar auch anstreben, aber einstweilen „war die Landesarbeitsgemeinschaft sehr zögerlich im Beantragen zusätzlicher Gelder“, sagt Steinmann und lässt keinen Zweifel daran, dass dies vorsichtig formuliert war. 120 000 Euro wären für die Professionalisierung nötig gewesen.

Auch ohne Geld will die Gemeinschaft nicht nur weiter, sondern mehr arbeiten. Insbesondere „in Schulen und Altenheimen müssten wir präventiv mehr leisten“, meint Steinmann. Allerdings fühlen er und seine Helfer sich keineswegs unterfordert. Die Zahl der Betreuten wesentlich zu steigern, wäre ihnen unmöglich. Dazu bedürfte es weiterer Freiwilliger, die ihr Ohr kostenlos zur Verfügung stellen – und in nicht wenigen Fällen ihre Seele.