Der alte Schumacher Johann Brendel will einfach nicht in den Ruhestand gehen. Oft sitzt er von früh bis spät in seiner kleinen Werkstatt, schafft vor sich hin, plaudert mit der Kundschaft, freut sich des Lebens. Der Mann arbeitet seit 55 Jahren bei der Karlshöhe Ludwigsburg.
Ludwigsburg - Die Tür vom Hof öffnet sich mit einem leisen Quietschen. Draußen ist es an diesem Wintertag trotz Sonnenscheins kühl. Drinnen im Raum indes ist die Luft ziemlich warm und ein bisschen stickig. Es riecht nach Leder und nach Fett. Hinter der Werkbank hockt ein kleiner, alter Mann mit weiß-grauem Haar. Er schaut dem Neuankömmling verschmitzt entgegen. Normalerweise kommen nur ganz selten Fremde zu Johann Brendel. Der Schuster kennt seine Kunden fast alle persönlich. Viele kommen ja auch schon seit einer halben Ewigkeit zu ihm in den Mößnerweg in Ludwigsburg – wegen abgelaufener Absätze, gerissener Nähte, defekter Reißverschlüsse oder nur, um mal wieder ein bisschen zu plaudern.
Brendel ist der dienstälteste Mitarbeiter der Karlshöhe Ludwigsburg. Seit 55 Jahren steht er auf der Lohnliste. Als er im April 1961 eingestellt wurde, war er ein junger Mann – und schüchtern. Das jedenfalls behauptet er selbst. So richtig vorstellen kann man sich das gar nicht. Denn dieser Johann Brendel hat alle paar Minuten einen flotten Spruch parat. Auf die Frage, wie alt er denn sei, antwortet der Schuster keck: 40. Dann wartet er ein Weilchen, freut sich über den ungläubig dreinblickenden Gesprächspartner, um schließlich feixend zu ergänzen: „Jahrgang, ich bin Jahrgang 40.“ Brendel wird heuer also 76.
Die Arbeit ist sein Lebenselixier
Warum er damals von Husum nach Schwaben umgezogen ist? Ganz einfach: „Ich hatte kein Bett.“ Das stimmt tatsächlich. Nun ja, es stimmt zumindest ein bisschen. Während der Lehre in Schleswig-Holstein habe er mit drei anderen Stiften in einer winzigen Kammer gehaust. Ohne jede Privatsphäre. Drei Jahre lang. Nur einmal die Woche habe es für eine Stunde warmes Wasser gegeben. Das ist lange her. Außerdem, sagt Brendel, habe ihm die Arbeit an der Küste arg gestunken, auch deshalb sei er umgezogen. „Wir mussten die Stiefel der Krabbenfischer reparieren.“ Wieder huscht ein verschmitztes Grinsen über das vom Leben gegerbte Gesicht.
Dieser Johann Brendel hat es von klein auf oft nicht leicht gehabt. Der Vater habe ihm, dem Bub mit einer Gehbehinderung, immer und immer wieder eingebläut: „Du musst einen Beruf lernen, denn auf Behinderte nimmt keiner Rücksicht.“ In der Berufsschulklasse in Lübeck seien fast nur Kinder von Schuhmachermeistern gewesen. „So war das damals, alle sollten das Geschäft ihrer Eltern übernehmen“, erzählt der Schuster, der längst im Rentenalter ist, aber einfach nicht aufhören will mit dem Schaffen. Die Arbeit in seiner kleinen Werkstatt der diakonischen Einrichtung am Salonwald ist sein Lebenselixier. Hier kann Brendel schalten und walten, wie er will. Ohne seine Leisten, ohne die große Schleifmaschine von anno dazumal, ohne die antiquierte Druckluftpresse und die betagte Adler-Nähmaschine Typ Langarm würde er vermutlich eingehen wie die sprichwörtliche Primel ohne Wasser.
Bis in die Nacht hinein in der Werkstatt geschafft
In Ludwigsburg auf der Karlshöhe ist das Nordlicht gelandet, weil die Einrichtung damals nicht nur eine Stelle angeboten hatte, sondern auch ein Zimmer. Beim Blick auf die Landkarte habe er allerdings schnell erkannt: Mann oh Mann, Ludwigsburg, das ist arg weit weg. Seine Schwester habe aber in Murrhardt gelebt und in einem Altenheim gearbeitet. Wenn die Stelle nichts gewesen wäre für ihn, sagt Brendel, „dann hätte ich einen Besuch in Murrhardt gemacht und wäre wieder zurückgefahren“. Es kam anders. Obgleich der junge Mann von der Küste plattdeutsch gesprochen hat und zunächst kaum ein Wort Schwäbisch verstand.
In der Werkstatt türmen sich auf einem kleinen Tisch die Werkzeuge. Garn, Nägel und Bänder liegen kreuz und quer verteilt. Brendel findet in diesem Durcheinander ganz schnell alles, was er braucht. Er hat seine eigene Ordnung. Auf den Regalbrettern an der Wand stehen geschätzt gut fünf Dutzend Paar Schule zur Abholung bereit. Er habe kürzlich bis in die Nacht hinein in der Werkstatt geschafft. Das Radioprogramm sei halt so spannend gewesen, er wollte nicht heimgehen. Für die paar Hundert Meter bis zu seinem Apartment braucht der Senior mit seinem Rollator lange. Die Radiosendung wäre vermutlich vorbei gewesen. Nachts, sagt er, komme er auch schneller voran mit der Arbeit. Weil keine Kundschaft kommt zum Plaudern.
Die moderne Wegwerfgesellschaft ist nicht seine Welt
Wer die Türschwelle von Johann Brendels Werkstatt überschreitet, der begibt sich auf eine Zeitreise. Früher, sagt der Schuster, hätten sich die Menschen oft nur einmal im Leben ein gutes Paar Schuhe geleistet. Diese Treter seien angefertigt, regelmäßig auf Vordermann gebracht und mitunter auch noch an die Nachkommen vererbt worden. Das ist heute kaum mehr vorstellbar. Johann Brendel stellt schon lange keine Schuhe mehr her. Die moderne Wegwerfgesellschaft ist nicht seine Welt. Der Schuster repariert fast alles: Auch Lederjacken und Hosen, Taschen und gelegentlich sogar mal ein Sitzmöbel.
Eine Stammkundin betritt die Werkstatt. Brendel begrüßt sie als „Frau Königin“. Sie bezahlt für die Reparatur von drei Paar Schuhen 14 Euro und erzählt. Dass sie Brendels Arbeit schon sehr lange schätze. Sie habe die Schuhe ihrer Tochter schon gebracht, als diese noch klein war. An diesem Tag hat die ältere Dame wieder Schuhe der Tochter im Gepäck. Die Tochter sei mittlerweile selbst Mutter und schwöre ebenfalls auf die Wertarbeit des alten Schusters.
Aufzuhören ist für Brendel keine Option
Aufzuhören ist für Brendel keine Option. Vor ein paar Jahren hat er sich das Becken doppelt gebrochen. Nach der Operation habe er sich die Narbe angeschaut und dem Arzt augenzwinkernd erklärt: „Das hätte ich besser genäht.“ Brendel hat sich wieder aufgerappelt. Er wird wohl so lange schaffen, wie ihn seine schwachen Beine und der Rollator in die Werkstatt tragen.