Maria Hofstätter als Anna Maria in „Paradies: Glaube“, Ulrich Seidls Kammerspielfilm über die Abgründe des religiösen Fanatismus. Foto: Verleih

Die einen finden in der Religion ihr Seelenheil, andere verlieren sich darin, und manche halten sie für eine Geißel der Menschheit. Wohin ihre Übersteigerung führen kann, zeigt Ulrich Seidl in seinem Film „Paradies: Glaube“.

Sorgsam richtet Anna Maria den Tisch und enthüllt das Herz des Heilands. Bald wird ihre Gruppe davor in spiritueller Ergriffenheit deklamieren: „Wir sind die Gebetsgruppe Legio Herz Jesu. Wir sind die Speerspitze des Glaubens. Wir sind die Sturmtruppe der Kirche. Himmlischer Jesus, wir schwören dir unsere Liebe. Wir schwören dir unseren Gehorsam. Wir schwören dir, dass Österreich wieder katholisch wird.“

Die ganz normalen Fanatiker der Vorstädte sind es, die der österreichische Filmemacher Ulrich Seidl vorführt im zweiten Teil seiner „Paradies“-Trilogie. Die trägt religiöse Motive auch in den Untertiteln – dabei zeigt Seidl, wie Menschen sich das Dasein selbst zur Hölle machen.

Teil eins, Untertitel: „Liebe“, handelt von der übergewichtigen, alleinerziehenden Teresa, die im Kenia-Urlaub feststellt, dass ihre Sehnsucht, begehrt zu werden, nicht umsonst zu haben ist. Bald wandelt sich die zunächst Einfühlsame zur gnadenlosen Sextouristin. Teil drei, Untertitel: „Hoffnung“, zeigt Teresas Tochter Melanie im „Diät-Camp“ für übergewichtige Halbwüchsige, das eine beinharte Fitnesstrainerin und ein faschistoider Sportlehrer wie ein Straflager führen: Heimliche Süßigkeiten- und Alkohol-Exzesse werden hart geahndet. Zudem verleiht der zugehörige Arzt dem Begriff „Doktorspiele“ eine ganz neue Dimension.

Bekehrung mit geringem Erfolg

In beiden Filmen provoziert Seidl bewusst und treffsicher, für einen Skandal aber sorgte beim Filmfestival in Venedig 2012 der als Kammerspiel angelegte Teil zwei: Wer Auswüchse übersteigerter Religiosität zeigt, muss damit rechnen, die Gefühle Gläubiger zu verletzen.

Die Protagonistin ist Teresas Schwester Anna Maria, eine Krankenschwester und fanatische Katholikin in einem absolut nüchtern und unwohnlichen eingerichteten Wiener Vorort-Häuschen. Sie singt herzhaft falsch Kirchenlieder zur Heimorgel und rutscht auf Knien betend so lange durch die Wohnung, bis ihre Knie aufgeschürft und blutig sind. Manchmal genügt es ihr auch, sich mit freiem Oberkörper selbst zu kasteien, auf Knien den andächtigen Blick fest aufs Kruzifix geheftet.

An Urlaubstagen zieht Anna Maria mit ihrer „Wandermuttergottes-Statue“ in die Unterschichtbezirke und geht dort von Tür zu Tür, um in Wohnungen einzudringen und die Bewohner zu bekehren. Mit geringem Erfolg: Mal steht ein verwirrter Messie vor ihr inmitten seiner zugemüllten Wohnung, nur mit einer weißen Feinripp-Unterhose bekleidet, und entpuppt als unfähig, der frohen Botschaft wirklich zu folgen; dann wieder gerät sie an eine post-sowjetische Trinkerin, die sie in handfestem physischem Ringen um die Flaschen dazu bringen möchte, dem Teufel Alkohol abzuschwören – Missionierung mit der Brechstange.

Leibliche Nöte mit Kruzifix gestillt

Als wäre das nicht genug, führt sie zu Hause noch einen Religionskrieg im Kleinen. Ihr Mann Nabil ist Moslem und seit einem Unfall an den Rollstuhl gefesselt. Nach Jahren kehrt er aus Ägypten zurück, wild entschlossen, seine Frau zurückzugewinnen. Sie aber ist inzwischen an den Herrn Jesu vergeben, und weil er wegen seines Handicaps auch körperlich unterlegen ist, bleibt ihm nur der Furor: Er dreht die Muezzin-Platte auf, schlägt Kruzifixe und Papstikonen von den Wänden. Sie besprüht ihn mit Weihwasser und nimmt hin, dass er zu dem Zerrbild des hasserfüllten eines Moslems geworden ist, das die stereotype Wahrnehmung vieler Menschen prägt.

Anna Maria freilich hat auch ihre leiblichen Nöte, und wenn es gar zu arg wird, nimmt sie nachts das Kruzifix von der Wand und klemmt es zwischen die Beine. Maria Hofstätter, schon in Seidls Filmen „Hundstage“ (2001) und „Import Export“ (2007) zu sehen, erfüllt die delikate Rolle mutig mit prallem Leben. Sie offenbart sich ungeschützt, ungeschönt und ungeschminkt und gibt ihrer Figur den heiligen, gespenstischen Ernst, den sie braucht.

Kamera entgeht keine Entblößung

Seidls Bildsprache ist gnadenlos präzise, fast dokumentarisch. Mit scharfem Blick durchleuchtet er den Abgrund hinter der kleinbürgerlichen Fassade und gibt ihn preis bis in die grauenhaften Details. Tief ins scheinbar Alltägliche eintauchend, fördert er mit österreichischem Schmäh Privates zutage, vor dem die meisten Menschen sonst die Gabe der selektiven Wahrnehmung schützt. Dabei nimmt seine Kamera nicht Teil am Leben der Protagonisten, sie bleibt unaufgeregt auf Distanz und beobachtet mit der Beharrlichkeit eines Voyeurs. Keine Entblößung entgeht ihr. Anna Maria enthüllt Seidl im wahrsten Sinne des Wortes: Er lässt sie über Hängebrüsten die Geißel schwingen und sich mit aufgelöster Mähne im weißen Nachthemd in feuchten Träumen winden.

Das Perfide an Seidls Kunst ist nicht, was er zeigt – sondern dass man es sich als Möglichkeit vorstellen kann. Alles.

„Paradies: Glaube“ ist ab 16 Jahren freigegeben und startet an diesem Donnerstag im Stuttgarter Kino Delphi.