Sind immer gesprächsbereit: Die Mitarbeiter der Telefonseelsorge. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Nachts und am Wochenende rufen psychisch Kranke vermehrt bei der Telefonseelsorge an. Viele, weil sie nicht weiter wissen und sich an niemanden sonst wenden könnten. Eine technische Finesse hilft, dass mehr Anrufer durchkommen.

Stuttgart - Die Zahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen wächst, ihr Betreuungs- und Beratungsbedarf auch. Deshalb verzeichnet die Telefonseelsorge in Stuttgart vermehrt Anrufe von Betroffenen.

Menschen mit Depressionen beispielsweise stellten 21 Prozent der bundesweit 1,4 Millionen Anrufer im Jahr 2017, die zu einem Beratungsgespräch durchgekommen sind. „Die Zahl der Verwirrten unter den Anrufern nimmt zu“, sagt Bernd Müller von Ruf und Rat. Mehr als 44 000 Gespräche haben die fast 200 ehrenamtlichen Berater in Stuttgart geführt, pro Tag 121, hat Müller errechnet.

Orientierungsverlust

Die Themen sind komplex, betonten die Beteiligten bei der gemeinsamen Jahrespressekonferenz der katholischen Telefonseelsorge (Ruf und Rat) und der evangelischen Telefonseelsorge im Haus der Katholischen Kirche in Stuttgart. Bei neun Prozent der Anrufer geht es um das Thema Sexualität, auch Missbrauch, um körperliche und seelische Gewalt.

Depressive, isolierte und angstvolle Menschen seien in der Regel zwar seit Langem ins Hilfesystem integriert, „aber nachts erreichen sie keinen Arzt, oft treiben sie orientierungslos zwischen den Angeboten, von der Psychiatrischen Klinik über Psychologische Behandlung, psychotherapeutische Unterstützung bis hin zum Angebot der Gemeinde- und Sozialpsychiatrischen Zentren“, sagt Martina Rudolph-Zeller, „es gibt Leute, die sagen: Ich weiß gar nicht, wo ich hin soll.“

Seelsorge will sich in Fachkreisen einbringen

Thomas Krieg von Ruf und Rat macht ähnliche Erfahrungen. „Wenn einer zum Beispiel unter Burnout leidet und Medikamente verschrieben bekommen hat, dann weiß er unter Umständen nicht, ob eine Klinik oder eine Therapie für ihn besser ist. Der fragt auch: Was heißt das für meinen Job?“ Auch Menschen mit Angst-Attacken würden sich insbesondere nachts melden, weil sie fürchten, wieder in die psychiatrische Klinik eingewiesen zu werden. „Die Telefonseelsorge ist da, hilft, stabilisiert, gibt den Menschen ein Sicherheitsgefühl“, so Krieg.

Die Telefonseelsorge hat Praxen und Beratungseinrichtungen, Kliniken und Krankenversicherungen eines voraus: „Wir reden mit Menschen, die die nicht erreichen“, sagt Krischan Johannsen von der evangelischen Einrichtung. Zwar stehe man in gutem fachlichen Austausch mit niedergelassenen Einrichtungen und Kammern, aber gerade weil die Telefonseelsorge „eine wichtige Ergänzung fürs Gesundheitssystem ist, würden wir gern in den Arbeitskreisen, zum Beispiel dem des Landes für Psychotherapie, mitarbeiten“, sagt Martina Rudolph-Zeller.

Chat-Beratung gefragt wie nie

Je schwerer Anrufern das Leben fällt, desto mehr Zeit brauchen Berater. In den Jahren zuvor ist die von Daueranrufern arg beschnitten worden. „Wir hatten Anrufer, die sich am Tag mehr als 80 Mal bei uns gemeldet haben und tatsächlich an verschiedenen Stellen am Tag nahezu 20 Gespräche erhalten haben“, sagte Krischan Johannsen. Mit einer technischen Finesse wurde dies nun unterbunden: Seit 2017 müssen Handy-Anrufer nun eine Vorwahl eintippen. Ein zweiter Anruf von diesem Apparat aus wird dann innerhalb der nächsten Stunde an denselben Berater vermittelt, der über das Anliegen schon Bescheid weiß. Die Zahl der Beratungsgespräche ist zwar seitdem von 51 651 auf 44 140 gesunken, „allerdings haben die, die in Not sind, viel höhere Chancen durchzukommen“, sagt Bernd Müller.

Gefragter denn je ist laut Johannsen die Chat-Beratung, sie hat sich von rund 600 auf circa 1000 Kontakte pro Jahr ausgeweitet. Ein Drittel der Ratsuchenden war zwischen 20 und 30 Jahre alt, rund 20 Prozent waren 15–bis 20 Jahre. Jeder freie Chat-Platz sei binnen kurzem neu besetzt.