2018 rief die Seebrücke die Aktion „Sicherer Hafen“ ins Leben. Foto: Lichtgut/Ferdinando Iannone

Unter dem Motto „Enge Perspektiven: Realitäten zu Flucht und Ankommen“ hat die Seebrücke Lokalgruppe Stuttgart auf dem Marienplatz Räume einer Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete nachgestellt.

Ein orangefarbenes Band formt das Zimmer. Auch das Allernötigste darin ist auf dem Marienplatz aufgeklebt: Zwei Betten, zwei Stühle, ein kleiner Tisch, ein schmaler Metallschrank, ein Mini-Kühlschrank. Wie sich dieser Grundriss in drei Dimensionen anfühlt, ist nur wenige Meter weiter zu erfahren. Sechs Räume aus Gittern eingefasst mit weißer Plane haben dort die Mitglieder der Seebrücke Lokalgruppe Stuttgart aufgebaut unter dem Motto „Enge Perspektiven: Realitäten zu Flucht und Ankommen“. „Wir wollen darstellen, wie das Leben Geflüchteter nach ihrer Ankunft in einer Gemeinschaftsunterkunft in Deutschland aussieht“, erklärt Rachel Dölker, Seebrücke-Aktivistin. Ihre Kollegin Marie Krauss unterstreicht, es gehe um ein Zeichen für menschenwürdiges Leben von Geflüchteten. „Wenn man nur eine Quadratmeterzahl hört, ist das manchmal schwer vorstellbar. Viel eindrücklicher ist, wenn man die Verhältnisse selbst spürt. Also haben wir möglichst originalgetreu die Zimmer nachgebaut.“

 

Die sind nicht groß. Laut dem Flüchtlingsaufnahmegesetz BW (FlüAG) des Landes Baden-Württemberg, das Soll-Standards für die vorläufige Unterbringung (VU) festgelegt, steht jedem Geflüchteten sieben Quadratmeter Wohn- und Schlaffläche zu. Dieses Maß ist vorübergehend ausgesetzt: Bis zum 31. Dezember 2024 sind es 4,5 Quadratmeter – so wie vor 2015. Manche leben in der VU länger als die vorgesehenen 24 Monate, weil keine Anschlussunterbringung, also Wohnung gefunden werden kann. „Wir wollen informieren und mit Falschinfos aufräumen“, so Dölker. „Man darf nicht die Schwächsten gegeneinander ausspielen.“ Die Wohnungsnot sei nicht durch Zuwanderung entstanden, sondern durch eine jahrelang falsch gelaufene Wohnungspolitik.

2018 rief die Seebrücke die Aktion „Sicherer Hafen“ ins Leben

Das Seebrücken-Modell besuchen an diesem Samstagnachmittag einige. „Das ist schon eng hier, vor allem wenn da Familien mit Kindern wohnen“, sagt eine Frau. Eine andere nickt. „Keine Privatsphäre, deprimierend, das kann retraumatisieren.“ Beide vertiefen sich in die Tafeln und Fotos, die Dölker, Krauss und die anderen vor und in den nachgestellten Räumen aufgehängt haben. Da geht es um die Menschen, die in solchen leben, die Bedrohungen in ihren Heimatländen, die Fluchtrouten und was sie dort an Gewalt erlitten haben – auf dem Weg über den Balkan, über Griechenland, die Türkei, die polnisch-belarussische Grenze, von Nordafrika über das Mittelmeer, von Westafrika über den Atlantischen Ozean zu den Kanarischen Inseln. Auch die „Externalisierung der Europäischen Grenzen“ wird thematisiert, die Migrationsabkommen der Europäischen Union mit afrikanischen Regierungen wie Tunesien, Marokko und Algerien.

Und die Forderungen der Flüchtlingsinitiative: Sichere Häfen, einen Ort zum Ankommen für Menschen auf der Flucht. 2018 rief die Seebrücke die Aktion „Sicherer Hafen“ ins Leben. 44 Städte in Baden-Württemberg haben sich seither daran beteiligt und verpflichtet, die Seenotrettung zu unterstützen. Stuttgart erklärte sich 2020 zur „Stadt als sicherer Hafen“. Kürzlich indes legte Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) – auf Empfehlung des Regierungspräsidiums Stuttgart, ihrer Rechtsaufsichtsbehörde – Widerspruch ein gegen eine Spende für ein Seenotrettungsschiffs im Mittelmeer, die die Fraktionen von Grünen, SPD, zwei Fraktionsbündnisse und eine Einzelstadträtin zuvor beschlossen. Die Seebrücke Stuttgart forderte Nopper auch auf, die Schiffspatenschaft nicht weiter zu blockieren. Das koste in der Seenotrettung „nichts Geringeres als Menschenleben“. In Konstanz hatte der Rat im November 2021 eine Patenschaft – ebenfalls über 10 000 Euro – einstimmig verlängert. Auch Mannheim ist nach wie vor an Bord.