Die schwarze Linie scheint die bunte Botschaft durchstreichen zu wollen. Foto: Roberto Bulgrin

Ein nagelneues, von Jugendlichen gemaltes Wandbild in der Oberesslinger Bahnhofsunterführung ist beschmiert worden. Als Tatmotiv wird Homophobie vermutet.

Sanft öffnen sich die Hände nach oben, eine hält mit den Fingerspitzen eine Blüte: eine Geste der Harmonie, der inneren und äußeren Balance, des Gebets. Bunt sind die Hände, bunt ist das ganze Bild mit seinen Blumen, seinem regenbogenfarbenen Bildgrund, seinem Freiheitsvogel. Zwischen den Aufgängen zu Gleis 2 und 3 bringt das großflächige Graffito Farbe ins Dunkel der Oberesslinger Bahnhofsunterführung. Seine Form gleicht einer Progress-Pride-Flagge, einem Banner der Homosexuellen-, Trans- und Queer-Community, das für Diversität und Toleranz, gegen Sexismus, Homophobie und Rassismus steht. Und diese Form entspricht dem Inhalt, einem Plädoyer für Buntheit und Vielfalt in Leben und Gesellschaft. In schöner Symbolik, ohne jegliche Provokation wird diese Botschaft dargestellt. Trotzdem gibt es offenbar Menschen, die sie nicht ertragen. In der Nacht auf vergangenen Montag wurde das erst zwei Tage zuvor von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus dem Oberesslinger Jugendhaus Nexus völlig legal auf die Fliesen gesprühte Wandbild mit schwarzer Farbe beschmiert: krakelige, unsichere Linien, als wollten sie etwas durchstreichen. Man sieht ihnen Zeitdruck und die Angst, entdeckt zu werden, an. Nexus-Leiter Kim-Simon Stelzig und die Organisatoren des Esslinger Christopher Street Day (CSD) gehen von homophobem Hass als Tatmotiv aus.

 

Als „Schwuchteln“ beschimpft

Nicht nur wegen der Beschädigung. Als Jugendliche und Betreuer am 6. und 7. Oktober vor Ort am Werk waren, seien sie mehrfach von Männern jüngeren und mittleren Alters, teils Wasenbesucher in Lederhosen, als „Schwuchteln“ beschimpft und zum „Aufhören“ aufgefordert worden, sagt Stelzig. Einer der Männer habe sogar das Bild bespuckt.

Entstanden ist das Graffito im Rahmen eines Förderprojekts des Bundesfamilienministerium unter dem Motto „Demokratie leben“. Gemäß dem vorgegebenen Thema habe man sich für die Motive entschieden, die „Solidarität mit der queeren Gemeinschaft und den Einsatz für eine offene, tolerante Gesellschaft“ ausdrücken, erklärt Stelzig. Das neue Bild ist nicht das erste in der Unterführung. Bereits im vergangenen Jahr wurden dort von Nexus-Jugendlichen zwei farbenfrohe Graffiti geschaffen, damals im Zeichen des „Erwachens aus der Corona-Schockstarre“, wie Stelzig sagt. Auch auf einem dieser Bilder wurden zwei Frauenköpfe von dem oder den Tätern schwarz übersprüht. Stelzig ist mit der Polizei in Kontakt, er will Anzeige erstatten. Ebenfalls wird die Deutsche Bahn als Eigentümerin des Bahnhofs „in dieser Sache einen Strafantrag bei der Bundespolizei stellen“, teilt ein Sprecher des Unternehmens auf Anfrage mit.

Jugendhausleiter und Bahn erstatten Anzeige

Wie der Jugendhausleiter sehen auch die CSD-Organisatoren in den Schmierereien „eine Hassbotschaft an die diverse, queere Gemeinschaft in Esslingen“. Von der Stadt fordern sie eine „klare Haltung“. Rathaussprecher Niclas Schlecht sagt auf Anfrage: „Wir bedauern die Beschädigung zutiefst. Wenn sich der homophobe Hintergrund bestätigen sollte, verurteilen wir das mit aller Entschiedenheit.“ Für Stelzig ist es eine „bürgerschaftliche Aufgabe“, eine Kunstaktion zu schützen, welche einen düsteren Passantenschlauch in einen etwas freundlicheren Ort verwandelt. Entmutigen lässt er sich nicht: Er und die Jugendlichen sind in der Unterführung bereits mit dem vierten Graffito, diesmal gegen Rassismus, zugange – unter dezenter Sicherung durch die Polizei.