Nach seinem Outing im Januar hat der katholische Pfarrer Stefan Spitznagel riesigen Zuspruch bekommen: „Das hatte ich nicht erwartet.“ Foto: Simon Granville

Schon in der Grundschule hat Stefan Spitznagel gespürt, dass er sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt. Was denkt der katholische Priester über Liebe und Sexualität?

Interview - Der katholische Geistliche Stefan Spitznagel ist einer von mehr als 100 Mitarbeitern der katholischen Kirche, die sich im Januar in einer Fernsehdokumentation als homosexuell oder transgender geoutet haben. Der Priester aus Marbach (Kreis Ludwigsburg) berichtet, wie er über Sexualität, gleichgeschlechtliche Liebe und Zölibat denkt.

 

Herr Spitznagel, wann waren Sie das letzte Mal verliebt?

(Lacht) Puh. Ich könnte spontan etwas zum ersten Mal sagen.

Auch gut – wann war denn das erste Mal?

In der achten Klasse bei einer Klassenfete habe ich mich in eine Mitschülerin verliebt.

Dennoch: Wann war das letzte Mal, dass Sie sich verliebt haben?

Das ist doch schon eine ganze Weile her.

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Wie definieren Sie für sich Liebe?

Da muss man zuerst einmal zwischen Verliebtsein und Liebe unterscheiden. Das Verliebtsein kommt einfach, das plant man nicht und hat man nicht im Griff. Für die Liebe muss man sich aber bewusst entscheiden. Liebe ist die immer wieder neue Bereitschaft, den anderen verstehen zu wollen. Und zwar, indem ich mich innerlich an seinen Platz stelle, um zu gucken, warum er so denkt und empfindet, und dann wieder zurück an meinen Platz zu gehen. Deshalb ist es nicht wichtig, dass zwei Menschen gleich ticken, sondern dass sie spüren, der andere macht sich die Mühe, mich zu verstehen.

Gibt es noch eine weitere Seite von Liebe?

Verlässlichkeit. Es ist ein Urbedürfnis, sich auf den anderen verlassen zu können, aber dazu muss ich immer mich selbst verlassen – und das wiederum ist ein Wagnis. Ich vertrau mich dem anderen an und vertraue darauf, dass der andere mich auffängt.

Was macht denn ein katholischer Priester, wenn er sich verliebt? Wenn also die Schmetterlinge, gegen die man sich nicht wehren kann, in der Magengegend heftig zu flattern beginnen?

Was der typisch katholische Pfarrer macht, weiß ich nicht.

Also gut: Was macht der Pfarrer Spitznagel?

Ich schaue erst einmal, was ich fühle, was hinter dem Gefühl steckt, auf welcher Ebene es sich abspielt und aus welcher Situation heraus es kommt. Und dann ist die Frage: Ist es nur ein blitzlichtartiges Gefühl oder steckt mehr dahinter?

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Also plädieren Sie dafür, Gefühle nicht zu verdrängen?

Ja . Weder verleugnen noch verdrängen, sondern dem Verliebtsein nachgehen und schauen, was den Reiz ausmacht. Das muss ja auch jeder Mensch tun, der in einer Beziehung lebt und sich in jemand anderen verliebt.

So wie Sie sich für das Leben in einer Beziehung mit Gott entschieden haben?

In diesem Punkt bin ich etwas allergisch. Weil das meiner Meinung nach erstens ideologisiert und überhöht wird und ich zudem nicht die Einschätzung teile, dass ein Zölibatärer eine intensivere Gottesbeziehung leben kann. Eine intensive Partnerschaftsbeziehung und eine intensive Gottesbeziehung schließen sich nicht aus.

Deshalb braucht es den Zölibat auch nicht?

Genau.

Wie weit ist denn die katholische Kirche auf dem Weg, dass es den Zölibat irgendwann nicht mehr geben wird – oder nur noch in freiwilliger Form?

Mich ärgert es, dass man jetzt so tut, als ob man über Reformen nachdenken würde, die schon seit 50 Jahren Thema sind. Das ist aus meiner Sicht Augenwischerei. Wenn jetzt Einzelne sagen, man könnte den Pflichtzölibat aufgeben, aber sofort nachgeschoben wird, dass man das weltweit klären müsse, dann ist das damit eigentlich schon erledigt. Dem Gerede trau ich nicht. Das ist, glaube ich, einfach eine Beruhigungspille.

Würden denn, wenn der Pflichtzölibat fällt, viele Priester heiraten?

Nein, das denke ich nicht. Zumal die junge Generation, die jetzt Priester wird, mit Verlaub sehr konservativ ist.

Standen Sie persönlich schon einmal an dem Scheideweg, Priester zu bleiben oder für einen Partner das Priesteramt aufzugeben?

Ja, es gab durchaus Phasen, in denen ich mich ernsthaft verliebt hatte und vor der Entscheidung stand, entweder die Gefühle zu verneinen, ein Doppelleben zu führen oder meine Liebe öffentlich zu leben und dann auszuscheiden. Für mich war immer klar: Wenn ich eine Beziehung öffentlich leben wollte, dann hätte diese Vorrang vor meinem Beruf.

Das heißt, Sie hatten bisher Beziehungen, haben diese aber nicht öffentlich gelebt?

Genau. Es kam durch keine Beziehung so weit, dass es eine Entscheidung gebraucht hätte.

Sie haben sich Ende Januar mit vielen anderen Mitarbeitern der katholischen Kirche geoutet. War das eine schwierige Entscheidung?

Die Aktion #OutinChurch wurde elf Monate lang vorbereitet. Jeder konnte sich überlegen, in welcher Form er mitmachen möchte. Für mich war klar: Die Zeit für den Schritt nach außen ist reif, nachdem ich schon die vergangenen Jahre versucht hatte, innerkirchlich etwas zu bewegen. Und wenn man älter wird, macht man auch nicht mehr so viele Kompromisse. Ich bin nicht mehr vom Wohlwollen der Menschen abhängig. Wenn die mich aufgrund der Aktion nicht mehr mögen, dann ist mir das egal, und wenn sie mich nicht mehr mögen, dann ist es höchste Zeit, dass sich unsere Wege trennen.

Was ist seit dem Outing passiert?

Ich habe riesigen Zuspruch bekommen, den ich nicht erwartet hatte. Alleine 300 Mails und Whatsapp. Das Tolle: Alle haben mir persönlich und sehr berührend geschrieben.

Wann haben Sie gespürt, dass Sie sich nicht zu Frauen hingezogen fühlen, sondern zu Männern?

Festmachen kann ich es für mich im Alter von acht Jahren. Allerdings konnte ich es da noch nicht fassen. Mitte der 1960er gab es ja auch gar kein Wort für dieses Gefühl. Wenn im Dorf über Schwule gesprochen wurde, dann immer nur indirekt. Ich hab sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen: gleichgeschlechtliche Liebe, die kann und darf es gar nicht geben. Es hat lange funktioniert, dass ich meinen Gefühlen nicht getraut habe.

Wann haben Sie ihnen getraut?

Das war beim Tanzkurs-Abschlussball mit 17 Jahren.

Und wie lange hat es gedauert, bis Sie das erste Mal mit jemandem darüber geredet haben?

Das war erst vier Jahre später – mit 21. Bis dahin hatte ich versucht, meine Gefühle zu unterdrücken und alles mit mir selbst auszumachen.

Was würde Gott denn zu der Aktion #OutinChurch sagen? Würde er sagen: Mensch Spitznagel, das hast du super gemacht?

Fragen Sie ihn (lacht). Ich glaube, er würde sagen: „So ein Scheiß. Warum kümmert ihr euch um solche Banalitäten? Es ja gibt doch wesentlich wichtigere Themen auf der Welt.“

Hätte er recht?

Dass es solche Aktionen braucht, ist in der Tat tragisch und zeigt, wie verquer das Ganze ist. Eigentlich müssen wir dahinkommen, dass wir gar nicht mehr drüber reden brauchen. Und genau das ist mit unser Ziel.

Am Samstag gibt es Einblicke in Liebesbriefe, die im Literaturarchiv Marbach schlummern.

Theologe und begeisterter Basketballer

Outing
 Der gebürtige Südbadener studierte in Tübingen und Bamberg katholische Theologie. Von 2001 bis 2009 war Spitznagel Pfarrer in Kornwestheim, danach in der Seelsorge am Klinikum in Ludwigsburg. Seit sieben Jahren ist der 63-Jährige Pfarrer in Marbach am Neckar. Im Januar dieses Jahres hat er sich zusammen mit mehr als 100 queeren katholischen Kirchenangestellten geoutet. Spitznagel ist Mitglied im Steuerungskreis der Aktion #OutinChurch.

Leidenschaften
 In seiner Freizeit kocht er gern zusammen mit Freunden. Außerdem ist er treuer Zuschauer bei den Basketballspielen der MHP Riesen in Ludwigsburg. In der Studentenzeit hat Spitznagel selbst Basketball gespielt.