Schäppel – das ist ein traditionelles Trachtenkrönchen aus Perlen und Steinchen. Foto: dpa/Violetta Heise

Viele glauben, Trachten seien uralt und die Alltagskleidung längst vergangener Zeiten. Doch weit gefehlt: Sie wurden erst vor wenigen Jahrhunderten eingeführt. Noch immer gibt es Liebhaber - auch wenn manch altes Wissen verloren geht.

St. Peter - Einen Schwarzwälder Bollenhut dürften wohl viele erkennen. Doch einen Schäppel? Uneingeweihte könnten das wertvolle Stück, das hier auf Anita Wehrles Wohnzimmertisch liegt, für eine Art Miniatur-Adventskranz halten - mit seinen unzähligen bunten Perlen, Spiegelchen und Steinchen. Doch es handelt sich um ein traditionelles Trachtenkrönchen.

Mädchen aus St. Peter im Schwarzwald tragen den Schäppel dem Brauch nach zur Kommunion und zu anderen kirchlichen Festtagen. Er wird mit Bändern an den Zöpfen befestigt. Wehrle, 78 Jahre alt, kann die filigranen Stücke als eine der Allerletzten noch fertigen.

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Wie automatisch formen ihre Finger Blümchen aus dünnem Draht, die später einmal Teil eines Schäppels werden könnten - wenn denn einer in Auftrag gegeben würde. Das aber sei lange nicht geschehen, sagt Wehrle. „Es werden keine Schäppel mehr bestellt, das ist ja alles vorbei“, sagt die Witwe. Sie fürchtet, dass Schäppel und Trachten allgemein bald aussterben könnten.

Zuwächse auch bei jungen Leuten

Doch diese Sorge teilt der Deutsche Trachtenverband nicht. Rund eine Million Menschen in Deutschland trügen vereinsmäßig Tracht, sagt Verbandspräsident Knut Kreuch. „Aus diesem Grunde ist die Tracht auch immer sehr lebendig und aktuell.“ Die Vereine verbuchten auch bei jungen Leuten Zuwächse. Nur im Alter der Berufsfindung gehe das Interesse zurück. Wenn es dann an die Familiengründung und das Sesshaftwerden gehe, kämen viele zurück zum Trachtenverein.

Fast jede Region in Deutschland habe ihre eigene Tracht - es gebe viel mehr als nur die allseits bekannten Dirndl und Bollenhüte. Wer kennt zum Beispiel die Tracht aus dem thüringischen Altenburg? Laut Kreuch sieht sie für Frauen schwarze Kleidung vor, die ihnen alles Weibliche nehme. So verdecke etwa ein Holzlatz die Brust, das Haar sei komplett verborgen. Oder wem sagt die Tracht aus Apelern in Niedersachsen etwas, bei der Frauen eine Dreistücksmütze trugen?

Viele halten Trachten für die historische Alltagskleidung der Menschen. Doch: „Sie sind ein erfundenes Kleidungssystem“, betont Lioba Keller-Drescher, Kulturwisssenschaftlerin an der Uni Münster mit einem Schwerpunkt auf Kleidungsforschung. Entstanden seien sie Ende des 18. Jahrhunderts, als Fürstenhäuser begannen, ihre Untertanen mit dekorativen Kostümen ausstatten zu lassen.

Innere Liebe zur Heimat

„Die Idee, dass insbesondere Landleute in einheitlicher, altertümlicher und sozialdifferenzierter Kleidung leben würden, war ein herrschaftliches, dann bürgerliches Wunschbild einer geordneten Gesellschaft“, sagt Keller-Drescher. Die Umwälzungen des 19. Jahrhunderts hätten diese „rückwärtsgewandten Utopien“ befördert. „Das Trachttragen wird dann massiv gefördert und findet dann Eingang in die regionalen Kleidungsstile.“

Doch welches Bedürfnis steckt dahinter, wenn Menschen sich heute noch in zum Teil unbequeme, sperrige oder wenig figurschmeichelnde Outfits schmeißen, die absolut nicht mehr der Mode entsprechen? Laut Verbandspräsident Kreuch wollen Trachtenfreunde „ihre Heimat auf der Haut tragen“. Die innere Liebe zur Heimat könne man nicht sehen, die Tracht schon. Damit drücke man Zusammengehörigkeit aus. „Man versteht sich - auch über das gegenseitige Erkennen. Wer anonym bleiben will, für den ist Tracht nichts.“

Schäppel-Macherin Wehrle trägt selbst noch regelmäßig die Tracht ihrer Schwarzwald-Gemeinde St. Peter: also etwa ihren Schnapphut und das schwere Kleid plus Seidenschürze. Trachttragen, das kenne sie noch aus der Kindheit: In Schule, Kirche, auf Festen - überall sei die Kleidung präsent gewesen. In den 1980er Jahren lernte Wehrle das Handwerk des Schäppelmachens. „Da hätt’ man nie gedacht, dass es mal so zurückgeht. So endet’s irgendwie.“ Schade sei das, und traurig. Heute wüssten viele nicht mehr, wie man die Kleider richtig trage, und jeder meine, er könne sich mal eben so einen Bollenhut aufsetzen.

In Vereinen leben Trachten weiter

Die 78-Jährige würde sich wünschen, dass Trachten wieder zum Alltag von Kindern und Familien dazugehörten. Aber außerhalb des Schwarzwalds sei die Tracht nun mal schon nach dem Zweiten Weltkrieg fast nirgends mehr so alltäglich getragen worden, sagt Reinhold Frank vom baden-württembergischen Trachtenverband. Der Schwarzwald sei da eins der letzten Refugien gewesen. In Vereinen lebten Trachten weiter. Dass heute kaum mehr jemand Schäppel kaufen wolle, müsse nicht an mangelndem Interesse liegen, glaubt Frank. Viele Familien besäßen wahrscheinlich schon ein solches Krönchen und reichten es von Generation zu Generation weiter. Die Gefahr, dass das Handwerk aussterben könnte, sieht er aber auch. „Das müssen wir vom Verband in den nächsten Jahren besonders in den Blick nehmen.“

Kulturwissenschaftlerin Keller-Drescher schlägt pragmatisch vor, die Tracht als „erfundene Tradition“ nicht ganz so ernst zu nehmen. Es sei an der Zeit, sich von der vorgestellten Schwere der Tradition zu lösen und die Tracht „als Verkleidung zu verstehen, derer man sich nach Bedarf als Freizeitvergnügen bedienen darf“.

Wehrle würde da wohl nicht zustimmen. Sie selbst hat ihrer eigenen Tochter beigebracht, Schäppel herzustellen, auch wenn es bestimmt ein wenig langweilig sei, etwas herzustellen, das niemand brauche. „Man muss dafür sorgen, dass es jemanden gibt, der weiß wie es geht“, sagt sie. „Das ist meine Verantwortung.“