Alexander hobelt an einem Stuhlbein für einen dreibeinigen Hocker. Die Lehrerin Sandra Müller muss ihm kaum helfen, der 15-Jährige gehört zu den stärksten Schülern. Foto: Julia Bosch

Seit 50 Jahren werden an der Oberen Weinsteige in Stuttgart-Degerloch Kinder mit Behinderungen unterrichtet sowie solche, bei denen keine medizinische Diagnose vorliegt, die aber trotzdem keinen klassischen Unterricht besuchen können. Manchmal fliegen auch die Stühle. Ein Besuch.

Degerloch - Alexander singt nicht mit. „Manchmal höre ich einfach lieber zu“, sagt er. Und hin und wieder ist ihm das regelmäßige Singen auch zu viel. Sein Mund bewegt sich jedenfalls keinen Zentimeter an diesem Morgen in der Karl-Schubert-Schule in Degerloch. Dem 15-Jährigen aus Kaltental sieht man nicht an, dass er eine sogenannte Schule für seelenpflegebedürftige Kinder besucht. Auch wenn man mit ihm spricht, merkt man keinen Unterschied zu Gleichaltrigen. Dennoch könnte er keine klassische Schule besuchen. Er ist entwicklungsverzögert und lernt langsamer als andere.

Die Klasse von Alexander besteht eigentlich aus sieben Schülern. Im Werkunterricht werden die Jugendlichen aber aufgeteilt. Zu gefährlich wäre es, mit allen gleichzeitig in dem Raum zu sein, in dem man sich, wenn es blöd läuft, auch verletzen kann. An diesem Vormittag haben Alexander und seine Mitschülerin Ronja ihre Lehrerin Sandra Müller deshalb für sich. Die beiden gehören zu den stärksten Schülern, ihre Lehrerin muss ihnen kaum assistieren beim Hobeln. Deshalb gibt es Zeit zum Plaudern. „Magst du Donald Trump, Frau Müller?“, will Ronja wissen. „Nicht so, nein“, heißt es. Dann: „Wisst ihr, wie hoch die Beine von Elefanten sind?“, fragt Ronja – und gibt kurz darauf selbst die Antwort: zwei Meter. Und übrigens müssten die Tierpfleger in der Stuttgarter Wilhelma jeden Tag 120 Kilo Elefantenkot einsammeln, weiß sie.

Zu viele Reize von außen überfordern Ronja

Die 14-Jährige ist ein großer Tierfreund, sie will selbst mal in der Wilhelma arbeiten. Aber auch wenn Ronja viel weiß und freundlich mit allen plaudert, so ist es nicht immer einfach mit ihr. Ob sie am Nachmittag am Theaterunterricht teilnehmen wird, kann sie noch nicht sagen. Denn manchmal wird Ronja alles zu viel. Dann zieht sie ihre großen Kopfhörer auf, um sich abzuschirmen. Und Ronja ist nicht immer so ausgeglichen wie an diesem Morgen im Werkunterricht, teilweise wurde sie auch schon aggressiv gegenüber Mitschülern.

Warum die 14-Jährige auf der Karl-Schubert-Schule gelandet ist? Die Diagnose der Ärzte lautet: Autistin, braucht eine reizarme Umgebung, ist sehr schnell überfordert, wenn zu viele Reize von außen kommen. Ronja selbst sagt: „Ich war auf verschiedenen Schulen, bis ich hierher kam. Aber ich wurde viel gehänselt und gemobbt.“ Auf der Karl-Schubert-Schule gehe es ihr viel besser, sagt sie, „aber die Albträume haben sich festgesetzt wie ein Virus. Am Anfang habe ich mich oft nicht getraut, das Klassenzimmer zu betreten. Das ist nun schon ganz anders.“

Autisten, Kinder mit Downsyndrom, traumatische Erlebnisse

Eine Veränderung, wie Ronja sie gemacht habe, durchlaufen an der Karl-Schubert-Schule alle Kinder, meint der Geschäftsführer Eberhard Renz. Jeder und jede Einzelne würde sich durch das besondere Konzept weiterentwickeln. Die Karl-Schubert-Schule ist anthroposophisch orientiert – dort wird also entsprechend der Waldorfpädagogik gelehrt und gelernt –, richtet sich aber an Kinder mit körperlichen, seelischen oder geistigen Behinderungen.

„Das Spektrum ist breit“, sagt Eberhard Renz, und zählt auf: „Autismus, Downsyndrom, genetische Defekte, schwere psychiatrische Störungen aufgrund traumatischer Erlebnisse oder Schüler mit Mehrfachbehinderungen und besonders hohem Pflegebedarf. Dazu kommen Kinder und Jugendliche mit Einschränkungen und Behinderungen, für die es keine medizinische Diagnose gibt.“ Mehr als 20 der 90 Schüler sprechen nicht oder nur sehr wenig. Manche sind auch verhaltensauffällig.

Immer mehr brauchen 1:1-Betreuung

Die Krankheitsbilder und Verhaltensweisen der Schüler haben sich in den vergangenen 50 Jahren, seitdem die Schule an der Oberen Weinsteige beheimatet ist, kaum verändert. Was mehr geworden ist, ist die 1:1-Betreuung einiger Schüler. Auf 90 Kinder und Jugendliche kommen 23 Integrationshelfer, die sich also nur um einen Schüler kümmern, sowie 30 Lehrer und 15 FSJler und Bundesfreiwilligendienstleistende als Helfer in den Klassen.

„Bei einem Neuntklässler ist es etwas Besonderes, wenn er mal zehn Sekunden am Stück bei der Sache bleibt“, sagt Sandra Müller, die Werklehrerin. Umso engagierter sei dieser beim Schneidern dabei. Jeder Schüler habe seine eigenen Qualitäten, alle seien extrem unterschiedlich. „Und manche muss man auch bewusst trennen, weil sonst der Unterricht überhaupt nicht funktionieren würde.“

Lehrer wechseln auch die Windeln

Gerade weil die Bandbreite so groß ist, würden die Lehrer sensationelle Arbeit leisten, meint der Geschäftsführer. „Wir bieten hier von morgens, wenn die Busse die Schüler abholen, bis nachmittags, wenn die Kinder wieder zu Hause ankommen, eine Rundumbetreuung – vom Unterricht, übers Windelwechseln und Waschen bis hin zur Begleitung in Ruheräume, wenn es den Schülern zu viel wird und sie eine Pause brauchen.“ Und nicht immer bleibt es ruhig. „Hier fliegen auch mal Stühle“, sagt Renz. „Letztlich steckt aber in jedem Kind ein gesunder Kern. Unsere Aufgabe ist es, an diesen Kern heranzukommen und das Gute und das Können aus jedem Einzelnen herauszuholen.“

Diese Aufgabe gelinge nicht zuletzt durch das regelmäßige Singen. „Die Musik beruhigt unsere Schüler“, sagt Renz. Oft funktioniere der Unterricht nach dem Gesang viel besser. Und wer mal nicht mitsingen will, so wie Alexander, der muss das nicht. Denn manchmal hört der 15-Jährige einfach lieber zu – und das ist an dieser Schule dann auch in Ordnung so.