Wird am 12. März mit dem Jenny-Heymann-Preis geehrt: Die Schülerin Milanea Müller hat sich mit Kindertransporten in der Nazi-Herrschaft beschäftigt Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Für 10 000 jüdische Kinder aus Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei wurde England zum rettenden Hafen vor dem Holocaust. Mit einer Arbeit über die Kindertransporte von 1938/39 gewann Milena Müller den Jenny-Heymann-Preis der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.

Stuttgart - Sigrid Warscher von der Stuttgarter jüdischen Gemeinde war eines dieser Kinder. 1939, eine Woche vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, erreichte die damals Achtjährige mit ihrer älteren Schwester Ingeborg mit dem letzten Kindertransport das rettende Ufer Englands. Den Vater Max Helfer, Besitzer eines Kaufhauses, hatten die Mädchen zum letzten Mal gesehen, als er zwei Jahre zuvor von der Gestapo abgeholt worden war, nun mussten sie auch von der Mutter Abschied nehmen. Mit einem umgehängten Pappschild, auf dem Name und Erkennungsnummer standen, einem kleinen Köfferchen, zehn Reichsmark in der Tasche, mehr war nicht erlaubt, und einer ungewissen Zukunft vor sich.

„Es ist eine schreckliche Vorstellung, dass sich Eltern von ihren Kindern trennen müssen, vielleicht für immer“, sagt Milena Müller zu Schicksalen wie diesem von Sigrid Warscher, Mitglied der Israelischen Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW) in Stuttgart. Milena denkt dabei an ihre Familie und die geliebten kleineren Geschwister und findet für eine solche existenzielle Grenzerfahrung nur ein Wort: „Es wäre entsetzlich.“

Das dunkelste Kapitel der deutschen Ge-schichte ist ihr nicht fremd: „Ich habe viele Bücher über die Zeit des Nationalsozialismus gelesen und mache seit einigen Jahren als Schülerguide für den Lernort Gedenkstätte auch Führungen für Schulklassen am Killesberg.“

Nach einer entsprechenden Ausbildung im Stuttgarter Jugendhaus schildert sie anderen Jugendlichen, wie dieser Park in den Jahren 1941 und 1942 zum Ort der Schande wurde: Weil sich hier auf Befehl des NS-Regimes tausende Juden aus Stuttgart und Württemberg einfinden mussten, um dann vom Nordbahnhof nach Osten deportiert und in den sicheren Tod geschickt zu werden. Die 17-jährige Schülerin des Albertus-Magnus-Gymnasiums freut sich, wenn daraus offene Diskussionen resultieren: „Viele sind betroffen und wollen sich näher damit auseinandersetzen. Aber es gibt auch immer welche, die sich gar nicht dafür interessieren.“ Was sie traurig macht und auch ein bisschen entsetzt.

Völlig unbekannt sei den meisten das Thema der Kindertransporte nach England. Nach dem Pogrom vom 9. auf den 10. November 1938 mit brennenden Synagogen, Verhaftungen und Ermordung von Juden waren die englische Regierung und auch die Bevölkerung auf Betreiben einflussreicher britischer Juden und der Quäker bereit, jüdische Kinder und Jugendliche aufzunehmen.

Die jüdische Gemeinde verpflichtete sich, für die Kosten aufzukommen, die Kinder im Land zu verteilen und ihnen eine angemessene Ausbildung zukommen zu lassen. Später sollten die Kinder mit den Familien wieder vereinigt werden und eine neue Heimat in Palästina finden. Doch für die meisten gab es kein Wiedersehen: „Viele der zurück gebliebenen Eltern, Geschwister und Verwandte sind im Holocaust umgekommen“ schreibt die junge Autorin in ihrer Arbeit.

Sie selbst machte der Roman „Liverpool Street“ von Anne C. Vorhoeve mit diesem Thema vertraut. Die zwar fiktive, aber tausend Mal passierte Geschichte über ein Mädchen aus Berlin, das sich von der geliebten Mutter trennen muss und nach der Reise per Bahn und Schiff mit tausenden anderen Flüchtlingskindern am Bahnhof Liverpool Street in London ankommt, hat sie nachhaltig bewegt. „Ich wollte mehr darüber wissen“, sagt sie.

Darum nahm sie sich trotz des anstehenden Abiturs Zeit, sich mit diesem Thema am Wettbewerb um den Jenny-Heymann-Preis zu beteiligen und wird dafür am 12.März mit einem ersten Preis ausgezeichnet. „Mit diesem Wettbewerb in Erinnerung an Jenny Heymann, eine Jüdin und erste Geschäftsführerin der 1956 gegründeten Gesellschaft für Christlich-Jüdeische Zusammenarbeit (GCJZ), wollen wir die Auseinandersetzung junger Menschen mit christlich-jüdischen Themen fördern“, so Alfred Hagemann, neben Bürgermeister Martin Schairer im GCJZ-Vorstand und Lehrer am Albertus-Magnus-Gymnasium.

Eine Zeitzeugin wie Sigrid Warscher, die 1947 nach Stuttgart zurückkehrte und später Josef Warscher, den Geschäftsführer der jüdischen Gemeinde, heiratete, war eine der wichtigsten Quellen für Milena. Die heute 84-Jährige bezeichnete einmal die acht Jahre bei ihren englischen Pflegeeltern als „die schönste Zeit in ihrem Leben“.

Eigentlich habe sie nie mehr nach Deutschland zurückkommen wollen. Obwohl sie von ihrer Schwester getrennt worden sei, anfangs an Heimweh gelitten habe und immer auf ein Wiedersehen mit den Eltern gehofft habe. „Solche Einzelschicksale“, sagt dazu Milena, "verdeutlichen die Geschichte viel mehr als Zahlen.“

Ihre Mutter hat Sigrid Warscher in Stuttgart wieder gefunden. Doch ihr Vater war 1942 ermordet worden, an ihn erinnert ein Stolperstein in der Uhlbacher Straße 88.

„Ich wollte diese großartige Rettungsaktion und den selbstlosen Abschied all dieser Eltern von ihren Kindern würdigen“, sagt Milena Müller, deren Arbeit neben gründlicher Recherche Empathie und viel Einfühlungsvermögen verrät. Die Katholikin, die viele Jahre als Ministrantin Dienst am Altar geleistet hat, fühlt sich dadurch an die Geschichte vom Barmherzigen Samariter aus der Bibel erinnert: „Das ist für mich ein Vorbild.“