Das schottische Parlament in Edinburgh: Die Turbulenzen des Brexit-Dramas führen zu allgemeiner Verunsicherung. Foto: AFP

Die Schotten haben Mitte 2016 für den Verbleib in der EU gestimmt. Nun sollen sie nicht einmal im EU-Binnenmarkt bleiben dürfen, wenn es nach London geht. Somit verlangt das schottische Parlament jetzt von der britischen Regierung einen sofortigen Brexit-Stopp.

Edinburgh - Eigentlich will sie gar ja kein Unabhängigkeitsreferendum. Zumindest keines jetzt oder in allernächster Zeit. Aber Nicola Sturgeon, Schottlands Regierungschefin, hat vielleicht schon bald keine andere Wahl mehr, als sich für eine erneute Volksabstimmung über die Trennung Schottlands von England zu entscheiden. Viele ihrer Landsleute halten es mittlerweile für wahrscheinlich, dass sie zu einem zweiten Anlauf zum „Scoxit“ ruft.

Dabei ist es noch keine drei Jahre her, dass das letzte Referendum zur Unabhängigkeit Schottlands abgehalten wurde. Im September 2014 stimmten 45 Prozent der schottischen Wähler für staatliche Souveränität und 55 Prozent für den Verbleib im Vereinigten Königreich. Eins der Argumente, das zu jener Zeit gegen schottische Unabhängigkeit vorgebracht wurde, war die Warnung, dass Schottland beim Schritt in die Unabhängigkeit automatisch aus der EU purzeln würde – und dass es nur unter großen Schwierigkeiten und erst nach vielen Jahren wieder in der EU Aufnahme finden würde. Das Risiko, meinten viele Schotten damals, sei einfach zu groß.

Im Wahlprogramm die Tür schon geöffnet

Inzwischen liegt die Sache anders. Jetzt wollen die Londoner Regierung und die Parlamentsmehrheit in Westminster das gesamte Königreich einschließlich Schottland aus der EU hebeln. Dazu befugt glaubt sich Premierministerin Theresa May durch das Votum beim EU-Referendum im Vorjahr. Dank knapper Brexit-Mehrheiten in England und Wales siegten die EU-Gegner in Großbritannien mit 52 Prozent. Die Schotten stimmten mit 62 zu 38 Prozent dagegen. Sie wollten „in Europa“ bleiben. Und die in Schottland regierende Schottische Nationalpartei (SNP) hält das für „ihr“ separates, demokratisches Mandat.

Dass Schottland nun gegen seinen ausdrücklichen Willen aus EU, Binnenmarkt und Zollunion „gezerrt“ werden soll, ist für SNP-Regierungschefin Sturgeon schlicht inakzeptabel. Für den Fall einer Divergenz zwischen dem schottischen und dem gesamtbritischen Ergebnis hatte die SNP in ihr letztes Wahlprogramm ja vorsichtshalber schon die Möglichkeit eines erneuten Unabhängigkeitsreferendums für Schottland eingebaut. Festlegen wollte sich Nicola Sturgeon auf eine solche Aktion allerdings nicht, und das aus gutem Grund. Im Anschluss an das Ja ihrer Landsleute zum Verbleib im Königreich im Herbst 2014 hat sich in Schottland nämlich wenig bewegt in den Meinungsumfragen.

Kompromiss mit May ist das Ziel

Beharrliche Zweifel am Sinn der Unabhängigkeit haben sich gehalten in dieser Zeit. Zum Beispiel fragen sich viele Schotten, wenn sie an die Haushaltsprobleme ihres Landes und an die Krise der Ölindustrie in der Nordsee denken, ob ein eigener schottischer Staat tatsächlich auf soliden Beinen stehen würde – oder ob sie doch besser aufgehoben wären im Vereinigten Königreich. Auch die Vorstellung, dass zwischen einem in der EU verbleibenden Schottland und einem irgendwann nicht mehr zur EU gehörenden England plötzlich Zollschranken errichtet werden müssten, ist vielen nicht geheuer. Die Turbulenzen, die das Brexit-Drama auslöste, sind so nicht einfach den Nationalisten zugutegekommen. Sie haben zu genereller Verunsicherung geführt.

In dieser Situation hat die SNP-Regierungschefin versucht, einen Kompromiss mit Premierministerin Theresa May auszuhandeln. Sie sei bereit, erklärte Sturgeon, schottische Unabhängigkeit auf die lange Bank zu schieben – solange ihr Land einen „guten Deal“ in Sachen Brexit erhalte von May. Im Idealfall sollten die Schotten in der EU verbleiben können, während andere Teile des Königreichs sich aus der Europäischen Union ausklinkten. Auf jeden Fall aber müsse Schottland, mit oder ohne England, weiter am EU-Binnenmarkt teilhaben. Das, so sagte Sturgeon, sei für sie unverzichtbar. Es sei das absolute Minimum für sie.

Lust der Schotten auf zweites Referendum gering

Ähnliche Überlegungen sind auch in Nordirland angestellt worden, wo ebenfalls eine Mehrheit (56 Prozent) gegen Brexit stimmte. Iren und Schotten haben der Londoner Regierung entsprechende Pläne für eine Sonderregelung vorgelegt. Aus Downing Street ist aber bisher kein Zeichen zur Kompromissbereitschaft gekommen. Alle Teile des Königreichs würden selbstverständlich in vollem Umfang konsultiert und informiert werden, hat die Premierministerin verkündet. Ein „Veto“ hätten Schotten und Iren aber nicht.

Diese prinzipielle Unnachgiebigkeit und Mays immer klarerer Kurs Richtung komplette Abkoppelung Großbritanniens von der EU – also in Richtung „superharten Brexit“ – haben Nicola Sturgeon in eine schwierige Lage gebracht. Sollte London nicht noch einlenken, bliebe ihr kaum etwas anderes übrig, als tatsächlich ein zweites Unabhängigkeitsreferendum zu verlangen. Immerhin meldete der Glasgower „Herald“ am vergangenen Mittwoch, dass zwar die meisten Schotten wenig Lust auf ein zweites Referendum hätten – dass aber im Falle eines Referendums nunmehr 49 Prozent der schottischen Wähler einem Votum für Unabhängigkeit zuneigen und nur noch 51 Prozent am Vereinigten Königreich festhalten wollen. Sturgeon selbst hat ja versichert, dass sie nicht „bluffe“, wenn es um die Zukunft Schottlands geht.

Schon wird über einen Blitzentscheid für ein neues Unabhängigkeitsreferendum spekuliert. Voraussetzung dafür wäre freilich, dass sich London mit einem erneuten Urnengang einverstanden erklären würde. Denn rechtskräftig kann eine schottische Volksbefragung nur sein, wenn die Zentralregierung grünes Licht dafür gibt.

Für London politisches Dynamit

Dass die Regierung May ein solches Schottlandreferendum ansetzen müsste, sobald das schottische Parlament sie mit Mehrheitsbeschluss dazu aufforderte – daran zweifeln nicht mal die schottischen Konservativen und die schottische Labour Party. Beide Gruppierungen sind leidenschaftliche Gegner einer Abspaltung Schottlands von England. Sie akzeptieren aber, dass ein von „ihrem“ Parlament gefordertes Referendum auch stattfinden müsste. Ein Schottlandreferendum zu blockieren wäre für London politisches Dynamit.

Noch weiter gegangen sind diese Woche Labour-Leute, Liberaldemokraten und Grüne im schottischen Parlament. Sie haben in einer symbolischen Abstimmung zusammen mit Sturgeons SNP-Fraktion Premierministerin Theresa May aufgefordert, den Brexit-Prozess zu stoppen und die britische EU-Mitgliedschaft (noch) nicht aufzukündigen diesen März. 90 schottische Parlamentarier stimmten für und 34 gegen diesen Antrag. Auch das war ein Signal. Schottland stellt sich zunehmend gegen London. Die Stimmung ist unwägbar geworden.