Im Weltraum von Schorsch Kamerun: der Schauspieler Alexey Ekimov spaziert im Raumanzug durch die Performances. Foto: Julian Marbach

Wieder tanzen schillernde Körper, wieder irrt das Publikum durchs Theater und endet an der Bar. „Das glaubst du ja wohl selber nicht!“, Schorsch Kameruns musiktheatrale Versuchsreihe im Stuttgarter Nord, geht weiter.

Stuttgart - Es ist der fünfte von zehn Abenden, die Schorsch Kamerun, Musiker und Theaterregisseur, im Nord inszeniert. „Das Sinnfreie“ heißt der Abend in der Reihe „Das glaubst Du ja wohl selber nicht!“ – und dabei steht wiederum, wie an jedem der vorhergehenden Abende, ein Autor im Mittelpunkt. Kein Beat-Poet oder Beat-Übersetzer ist es dieses Mal, kein Vertreter einer Pop-Rock-Gegenkultur, die sich dem Rauschhaftenverpflichtet hat, sondern Ernst Jandl, der eigentlich schon längst kanonisiert ist, in den späten sechziger Jahren aber doch einer war, der sich ganz unverschämt am deutschen Gedicht vergriff, mit zerrissener Sprache von seiner Kriegserfahrung erzählte und den Sinn verabschiedete, dem Klang zuliebe.

Elmar Roloff liest Ernst Jandl, auf einem Stuhl in der Mitte das Saals im Schauspiel Nord, vor einem Mikrofon, eingeschlossen von Plexiglas und Folie, stoßweise Blätter vor sich – ein Schauspieler, der Jandls Bild erweckt, so wie er dort sitzt, mit den Armen auf und ab schlägt und die Worte skandiert:

„falameleikum – falamaleitum – falnamalleutum – fallnamalsoovielleutum – wennabereinmalderkrieglanggenugausist – sindallewiederda. – oderfehlteiner?“

Und rund um Roloff, der die Silben spuckt, die Lippen spitzt und übereinander schiebt: Schorsch Kameruns nach rätselhaften Regeln organisierte Theaterwelt. Zu erleben sind skurrile Wellness-Sekten und wandelnde Wasserpfeifen, Menschen, die Kakteen sind, nachtschwarze Gestalten und junge Frauen, die unentwegt fluchen, murmeln und schimpfen.

Am Tag vor dieser Premiere führt Kamerun eine kleine Gruppe von Besuchern durch das Nord, beim leider letzten „offenen Werkstattabend“ der Reihe. Die Maskenbildnerin Bettina Löffler erklärt, wie der Kot, den der Mann im gläsernen Käfig an jedem Abend an die Wände seines Gefängnisses schmiert, angerührt wird. Der Schauspieler Alexey Ekimov spaziert im Raumanzug vorbei, und Schorsch Kamerun spricht vom Schrecken des Stuttgarter Städtebaus, lobt junge Bands wie „Die Nerven“ und die erfahrenen Musiker von „Metabolismus“, die an jedem Abend seiner vom Dadaismus inspirierten Reihe ihre hallenden Klanginstallationen für ihn aufbauen.

Eskapismus ist für Kamerun ein zentrales Thema. Ob Hubert Fichtes Reisen, ob Rolf Dieter Brinkmanns Wüten, ob Drogen, Pop und Punk: Immer geht es um Flucht aus einer Lebenswelt, die Komfort und zugleich Unbehagen bedeutet. Aber der Eskapismus, so Kamerun, hat sich gewandelt: Heute ist die Rebellion gegen das verplante Leben verschwunden, untergegangen auf Reisen zu Urlaubsparadiesen, die längst gebucht sind. Schorsch Kamerun sucht nach den wilden Gesten, die den Schleier zerreißen, und weiß zuletzt nur, dass es heute andere sein müssen als einst: Blut und Nacktheit im Theater berühren schon längst nicht mehr. „Wir suchen nach einer bestimmten Melancholie, die aber wie ein Schock sein kann.“

Auch davon, wie schwer es ist, neue Elemente zu finden, die jeden Abend der Reihe zu einer Premiere werden lassen, spricht Kamerun am Tag zuvor. Das Neue, zeigt sich dann am Freitag, steckt im Detail, ergibt aber eine Summe: Vieles ist gleich, vieles anders. Neue Choreografien und Kostüme treten neben die bekannten, neue Stimmen und neue Texte kommen auch hinzu.

Zum ersten Mal geht die Schauspielerin Birgit Unterweger in einer Tracht zwischen den Besuchern des Nord umher, bittet sie, die Partitur der „Freeman Etudes“ von John Cage zu halten, und lässt ein langes, schwarzes Band für rhythmische Sportgymnastik Spiralen in die Luft zeichnen, als spiele sie mit ihm die Musik des Zufalls. Was es bedeuten mag, dass Schauspieler frisch geröstetes Toastbrot vorüber tragen und Möhren schälen, fragt sich wahrscheinlich keiner mehr.

Schorsch Kamerun singt an diesem Abend nicht wie an den anderen vom „weichen Computer“. Er singt: „Kluger Mercedes, du kennst die coolsten Locations.“ An einer Plexiglaswand ein Schild mit der Nummer einer Party-Hotline, auf einem anderen Schild dann „Last Exit Paradise“ – der Künstler Elmar Mellert, der sich das ausgedacht hat, erklärt im Interview mit dem Freien Radio Stuttgart, was es bedeutet.

Jeder Abend der Reihe endet mit dem Auftritt einer Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises. Am Tag, der sich Ernst Jandl widmet, wird sie geleitet von Burkhard Spinnen und moderiert von einem Kaktus; es spielen Luci Emmons, Christian Schneeweiß, Birgit Unterweger und Boris Burgstaller. Jandl las niemals in Klagenfurt, aber diese Jury verhandelt auch nicht Jandl, sie spricht von Schnee, von Horror, Stephen King und Kafka – ergibt das einen Sinn? Mitnichten. Der Text der Jury ist wiederum Collage, Cut-up, geschnitten aus mehreren Protokollen Klagenfurter Sitzungen. Wer sich ins Nord begeben hat, an diesem Abend, der hat einen Urlaub der etwas anderen Art gebucht: Urlaub von Sinn, Bedeutung, Folgerichtigkeit. Unterhaltsam ist das unbedingt, aber die „abgewrackte Realität“ will es nicht verleugnen.