Der Astronaut, ein Fremder an all den Tagen im Nord, die Schorsch Kamerun gestaltet hat Foto: Julian Marbach/Staatstheater Stuttgart

Die zehnte Premiere ist die letzte: Schorsch Kamerun hat seine musiktheatrale Versuchsreihe im Nord beendet und die Zuschauer nach Kräften mit einbezogen.

Stuttgart - Noch einmal schreitet eine Prozession durch das Schauspiel Nord. Sie trägt ein leuchtendes Cocktailglas vor sich her, die lebende Wasserpfeife folgt ihr, Zuschauer und Schauspieler vermengen sich bei Schorsch Kameruns musiktheatralem Versuch „Das glaubst du doch wohl selber nicht!“ Am Samstag fand die letzte von zehn Premieren statt, befragte der Hamburger Musiker und Theaterregisseur zum letzten Mal im Nord die Gegenkulturen der jüngeren deutschen Vergangenheit. Hunderte Besucher sind an diesen Abenden in eine Welt aus Pop und Ironie eingetaucht. Sie haben Schauspielern gelauscht, die Texte von Autoren wie Jörg Fauser oder Hubert Fichte vortrugen, sie haben Sitzungen einer imaginären Bachmann-Jury erlebt, sind schillernden Wesen und schreienden Menschen begegnet.

Eine Woche zuvor hieß das Motto „Das Angriffslustige“ und der Abend war, folgerichtig, ruhiger, zurückhaltender inszeniert; eine Schauspielerin trug sehr freundlich das männerverachtende Manifest der Andy-Warhol-Attentäterin Valerie Solanas vor. Am Freitag las Manuel Harder aus Rolf Dieter Brinkmanns Gedichtband „Westwärts 1 & 2“ und ließ sich dabei mit vielen Litern blauer Farbe überschütten. Nun ist es Sebastian Röhrle, der am Mikrofon sitzt und seine Texte selbst auswählt, aus der Underground-Zeitschrift „Gasoline 23“, die einst von Jörg Fauser und Carl Weissner herausgegeben wurde: Ein cooles, müdes Murmeln, das von Präsidenten und von Sex erzählt.

Noch während das Publikum sich frei zwischen den vielen Stationen des Events bewegt, beginnt die Demontage. Schauspieler in historischen Kostüme ziehen papierne Bahnen mit den Ablaufplänen der Vorstellungen hinter sich her durch den Raum. Der Astronaut, ein Fremder an all den Tagen im Nord, steht da, eine Dose Stuttgarter Bier in der Hand. Und Schorsch Kamerun singt nicht mehr vom „klugen Mercedes“ – ein „schwuler Mercedes“ ist es nun, der aber immer noch die besten Locations kennt, in der Stadt, weil er die richtige App hat. Ein Funkenmariechen bemalt die transparenten Trennwände des Theatersaals; der Fellbacher Verein Chor-Art tanzt im blauen Zelt die Polonaise und summt.

„Der größte Scheiß ist heute der teuerste Scheiß“

Auch zum letzten Abend der musiktheatralen Versuchsreihe gehört ein Interview. Dieses Mal spricht das Freie Radio Stuttgart mit den Akteuren des Projektraums Lotte; es geht um Gandhi, Sexualität und narzisstische Störungen. Schorsch Kamerun mischt sich ein: „Ich finde es in Stuttgart nicht narzisstisch gestörter als anderswo“, sagt er. Eines allerdings hat er hier herausgefunden, und davon singt er nun: „Ich begriff endlich, dass der größte Scheiß heute der teuerste Scheiß ist.“

Die schlechte Nachricht, die Kamerun verkündet, kennt jeder schon: „Das Bauvorhaben, das in dieser Stadt läuft, wird länger dauern und teurer werden.“ Zum Ausgleich zwei gute Nachrichten: Die Bar hat geöffnet und nach der Vorstellung wird Techno gespielt, bis in die Nacht. „No Future“ war gestern, aber auch heute noch gibt es gute Gründe, der Welt zu entfliehen.

Ein Schauspieler mit Helm geht umher, an diesem letzten Abend; auf dem Helm eine Antenne. Irgendwo im Raum gibt es eine Station, über der auf einem Schild das Wort „Input“ steht. Dort können die Besucher des Nord ins Mikrofon sprechen, und was immer sie sagen, es wird an den Mann mit der Antenne übermittelt: Er ist der „Output“ und wird diese Sätze anderen Besuchern zuflüstern. Was aufgenommen, wiedergegeben wurde, welcher Austausch von Bildern und Ideen stattfand – das ist die Frage, die bleibt, nach dem Abbau der Gegenwelten. Das Samplegewitter der Band „Rost“ betäubt, während im Saal schon gearbeitet wird. Und bald wird getanzt.